Nachtzug
sich keine Gedanken über ein Geschenk für seine Stell {99} vertreterin gemacht hatte. In der ganzen Zeit ihrer Zusammenarbeit war über das rein Berufliche hinaus kaum eine Beziehung zwischen ihnen entstanden, und so war Maria Duszynska an diesem Abend erst das dritte Mal bei ihm zu Gast gewesen.
Katarina hatte den Kuchen auf einem Tablett serviert, während er die Weingläser füllte. Maximilian Hartung hatte es sich wie ein alter Freund der Familie in einem Sessel vor dem Kamin bequem gemacht und alle mit seinen Witzen und lustigen Geschichten unterhalten.
Doch die Stimmung, zuerst heiter und von Weinseligkeit geprägt, war im Laufe des Abends umgeschlagen, und als die Flasche Wein geleert war, da war das Lachen vollkommen verstummt und jeder hatte begonnen, in das Feuer zu starren. Das lange Schweigen war dann von Maximilian Hartung unterbrochen worden, der die beiden Gemälde über dem Kamin betrachtet und plötzlich mit weihevoller Stimme ein Gedicht vorgetragen hatte: »Nun geht meine Seele in meinem Land auf, seine Seele weilt in meiner Brust. Mein Vaterland und ich, ein großes Ganzes. Mein Name ist Million, denn ich liebe wie Millionen, fühle ihre Schmerzen, ihre Leiden …«
Sowohl Maria als auch Katarina hatten Maximilian Hartung verwundert und gerührt angestarrt. Jan Szukalski dagegen, den diese Worte an seinen Schmerz erinnerten, hatte weiter ins Feuer geblickt, bevor er als erster kommentierte: »Aus dem Epos Konrad Wallenrod …«
»Wie ich sehe, Dr. Szukalski, ist Ihnen Mickiewicz bekannt.«
Jetzt wandte Szukalski endlich den Blick vom Kamin. »Er ist mir nicht nur bekannt,
Panie
Hartung, sondern wie Sie sehen, habe ich ihm sogar einen Platz neben Jesus Christus eingeräumt. In meinem Leben wie auch über dem Kamin. ›Mein Name ist Million, denn ich liebe wie Millionen …‹ Adam Mickiewicz ist der größte Dichter aller Zeiten …«
»Dem will ich nicht widersprechen, Dr. Szukalski. Ich würde sogar sagen, daß er das wahre Symbol für den polnischen Patriotismus ist und daß er jetzt, da man unser wunderschönes Land besetzt hat, ein …«
»Ihr Name ließ mich annehmen,
Panie
Hartung, daß Sie Deutscher sind.«
Max zeigte sich keineswegs beleidigt. »Ich bin Deutscher väterlicherseits. Aber was bedeutet schon ein Name? Verlassen Sie sich auf einen Namen, wenn sie die Loyalität eines Menschen bemessen wollen?«
{100} »Sie erwähnten eine Fabrik in Danzig.«
»Stimmt, aber als mein Vater noch lebte, da war Danzig neutral, etwas Deutsch, etwas Polnisch.« Ein entwaffnendes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und bitte, sagen Sie nicht mehr
Panie,
reden Sie mich einfach mit Max an.«
Szukalski hatte nachdenklich genickt. Die aufrüttelnden Worte von Adam Mickiewicz hatten seine übliche Reserviertheit etwas gelockert. Er, der gewöhnlich die förmliche Anrede bevorzugte und vor zu großer Nähe zurückschreckte, hatte daraufhin erwidert, daß er gerne mit »Jan« angeredet würde, was ihn selbst am meisten überraschte.
»Gegen einen gemeinsamen Feind gibt es nicht länger einen Herrn oder einen Doktor, keine Männer oder Frauen, sondern nur Polen, und um Polens willen müssen wir in Treue und Freundschaft zueinander stehen. Zu meinem Bedauern muß ich Sofia morgen verlassen, Jan Szukalski, jetzt, wo ich gerade Freunde gefunden habe, und außerdem …«, er griff nach Marias Hand, »und außerdem ist Maria ja noch hier. Eigentlich möchte ich sie nicht wieder verlassen, aber leider muß ich …«
»Zurückkkehren, um Kugellager für die Deutschen herzustellen?« versetzte Jan Szukalski spitz.
Aber Hartung reagierte nur mit einem unschuldigen Lächeln: »Es handelt sich nicht gerade um die besten Kugellager.«
Alle lachten, und als das Gelächter verstummte, da beteuerte Max mit ganzem Ernst: »Ich bin genauso betrübt wie Sie, wenn ich sehe, was mit diesem Land geschieht. Und nun passiert Rußland dasselbe. Kann denn keiner die Deutschen aufhalten?«
Szukalski hatte sich über diese Äußerungen sehr gewundert. »Max, Sie sprechen zu freimütig«, hatte er gesagt, »in den letzten zwei Jahren ist man schon für weniger erschossen worden.«
Aber Max hatte sich unbeeindruckt gezeigt. »Und wer sollte mich verraten? Sie etwa?«
»Jeder könnte ein Verräter sein, Max. Woher wollen Sie wissen, daß Sie mir trauen können?«
Hartung grinste nur verschmitzt. »Na, wer schon ein Porträt von Adam Mickiewicz über dem Kamin hat, der wird wohl …«
»Ich meine es ernst,
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