Nachtzug
Schrift mit dem Titel
Der Untermensch,
in dem die Slawen als ›Abschaum der Mensch {105} heit‹ bezeichnet werden. Auf Hitlers Untermenschenskala rangieren sie nur knapp über den Zigeunern und Juden, und man hält sie nur für gut genug, ihren deutschen Herren als Sklaven zu dienen.«
»Gott stehe uns bei«, murmelte Szukalski.
»Die Nazis wollen ganz Polen versklaven, nicht nur die Juden, Doktor, sondern jeden. Und sie planen, die, die ihnen nichts nützen, wie Krüppel, Schwachsinnige, Alte und Kinder, zu beseitigen … Sie können sich nicht vorstellen, was in Auschwitz passiert. Wissen Sie, was das Leben eines Insassen wert ist? Den Wächtern ist es ausdrücklich untersagt, nur einen einzigen zu erschießen, da jede Kugel das Reich drei Pfennig kostet. Drei Pfennig, Herr Doktor! Also werden sie vergast. Sie kommen in Zügen, und viele von ihnen sind schon tot, weil sie tagelang wie Vieh transportiert wurden, ohne Wasser, ohne Essen. Dann werden von den Lagerärzten diejenigen ausgewählt, die sich als Arbeiter eignen. Frauen, die schwanger sind oder schon Kinder haben, werden sofort in die Gaskammern geschickt, weil sie als rebellisch gelten und den Wärtern immer nur Scherereien gemacht haben. Familien werden auseinandergerissen und Ehepaare getrennt unter dem Vorwand, daß man sie nach dem Duschen wieder zusammenführt.« Während Keppler sprach, wurde er leiser und leiser, so als hauche er sein Leben aus. »Wir vergasen sie zu Tausenden, Herr Doktor, jeden Tag. Zuerst haben wir Kohlenmonoxyd aus Dieselmotoren eingesetzt, aber mit dieser Methode ging es nicht schnell genug, es dauerte immer zu lange, bis die Motoren richtig liefen. Die Gefangenen wurden so eng zusammengepfercht, daß nicht ein einziger nach seinem Tod zu Boden fiel. Draußen konnten wir ihr Wimmern hören und wie sie um Gnade flehten. Manchmal dauerte es mehr als eine Stunde, bis sie schwiegen. Und dann öffneten wir die Türen …«
»O mein Gott!«
»Aber dann entschied man sich für ein Gas namens Zyklon B, das aus Blausäure hergestellt wird. Haben Sie jemals erlebt, wie jemand durch Blausäure stirbt?«
»Aber das ist doch unmö …!«
»Ja, zweifeln Sie ruhig und machen Sie es sich nur leicht! Aber wie soll ich meine Gedanken, meine Erinnerung abschalten? Herr Doktor, ich bin halber Pole, ich bin hier zur Welt gekommen, und doch habe ich den Deutschen dabei geholfen, das Volk meiner Mutter zu ver {106} sklaven. Ich kann nicht zurückkehren! Allein bei dem Gedanken wird mir schon übel! Ich habe sogar schon daran gedacht, mich dem polnischen Widerstand anzuschließen, aber wer würde mir denn schon trauen? Es ist hoffnungslos …«
»Gibt es keine Möglichkeit für Sie, eine Versetzung zu beantragen?«
»Dann wird man mich an die Ostfront schicken.«
»Das heißt, Sie wollen ein ärztliches Attest von mir.«
»Wenn das nicht geht, dann geben Sie mir wenigstens genug Schlaftabletten, damit ich für immer Schlaf finde. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen Vergeltungsmaßnahmen, Herr Doktor, ich werde Sie weit genug von Sofia einnehmen, an einem Ort, wo mich niemand findet.«
»Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, irgendeinen plausiblen Grund vorzutäuschen. Wenn wir den Deutschen erzählen, daß irgend etwas mit Ihnen nicht stimmt, dann werden Sie darauf bestehen, daß Sie in eines ihrer Krankenhäuser kommen, es sei denn, es handelt sich um eine schwere Infektionskrankheit. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir Sie hier halten können.«
»Welche Infektion meinen Sie genau?«
»Das weiß ich noch nicht, aber man kann alle Diagnosen durch Blutuntersuchungen überprüfen, und es gibt keine Möglichkeit, diese zu fälschen.«
»Es besteht also keine Hoffnung?«
Szukalski blickte Keppler in seine weit aufgerissenen blauen Augen und spürte, was in ihm vorging. »Geben Sie mir ein oder zwei Tage Zeit, vielleicht fällt mir ja irgendwas ein.«
Als Keppler aufstand und sich zum Gehen wandte, fügte Szukalski hinzu: »Ich glaube, es wäre am besten, Herr Keppler, wenn Sie von jetzt an Zivil tragen würden. Ist es gestattet, wenn Sie im Urlaub sind?«
»Ja, ich habe noch ein paar andere Sachen bei meiner Großmutter. Ich werde mich vorher umziehen, wenn ich das nächste Mal wieder zu Ihnen komme, Herr Doktor.«
Das kleine, aber gut ausgestattete Krankenhaus von Sofia versorgte die Stadt und die umliegenden Höfe und Dörfer, insgesamt etwa drei {107} ßigtausend Menschen. Das Haus wurde seit 1936 von Jan
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