Nachtzug
Max. Wenn man so spricht wie Sie, wie ein Par {101} tisan oder Aufständischer, dann ist das gefährlich. Man muß heutzutage sehr vorsichtig sein.«
Maximilian zeigte sich unbeeindruckt. »Wer vorsichtig ist, gewinnt nicht den Krieg. Ich habe keine Angst, zuzugeben, daß ich viele Freunde habe, die subversiv gegen die Deutschen arbeiten. Überall gibt es Widerstand, Jan; ich wette, sogar hier in Sofia.«
Szukalski lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte Marias Freund mißtrauisch. Diese Unterhaltung behagte ihm nicht, denn in den zwei Jahren seit der Invasion hatte er keine Worte von solcher Sprengkraft gehört. Obwohl er in seinem Empfinden Patriot war, glaubte Jan Szukalski, daß der Schlüssel zum Überleben – zu seinem Überleben und dem seiner Familie – in einer friedlichen Koexistenz mit der Besatzungsmacht lag. Widerstand kam einem Selbstmord gleich. Und obgleich Jan sich nichts sehnsüchtiger gewünscht hätte, als Polen von der Tyrannei befreit zu sehen, war er nicht bereit, diesen hohen Preis zu zahlen.
Seufzend antwortete er: »Manchmal denke ich, daß mir eine Epidemie lieber wäre als dieser Krieg; so könnten wir wenigstens die Deutschen fernhalten. Und was die Juden betrifft, so sind sie meines Wissens alle in Gettos umgesiedelt oder mit Schiffen außer Landes gebracht worden.« Und bei diesen Worten hatte er sich bemüht, das Bild vom Lager in Oświęcim zu verdrängen, von dem Piotr Wajda ihm erzählt hatte. »Wir hier in Sofia wünschen uns nichts als Frieden.«
Maximilian Hartung hatte seinen bohrenden Blick nicht vom Doktor abgewandt. Mit einem schrägen Lächeln um die Mundwinkel hatte er schließlich das Glas zu einem Trinkspruch erhoben: »Also auf den Frieden, Doktor.«
Als er die Treppe zum Krankenhaus erreichte, blieb Jan Szukalski stehen und blickte zum Eingang auf.
»Auf den Frieden«, hatten sie alle beigepflichtet und die letzten Weinreste aus ihren Gläsern geleert. Aber auch als die Gespräche sich dann wieder unverfänglicheren Themen zuwandten, war die Spannung zwischen ihnen nicht gewichen, und den ganzen Abend hatte ihn der schaurige Gedanke beschäftigt, der ihn auch nun wieder einholte, da er sich anschickte, das Krankenhaus zu betreten: Wenn die Bedrohung durch die Deutschen wirklich so echt war, wie Pfarrer Wajda annahm, und wenn sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrhei {102} ten sollten, welche Zukunft würde dann ihn, den Krüppel, oder seinen kleinen Sohn mit seinen blonden Locken erwarten? Würde alles bleiben, wie es war?
Oben auf der Treppe hörte er leise Schritte, dann huschte eine schemenhafte Gestalt an ihm vorbei. Ein hastig gemurmeltes »Guten Morgen, Herr Doktor« holte Szukalski in die Wirklichkeit zurück und lenkte seinen Blick auf die Person, die an ihm vorbeieilte. Er erkannte den schlanken Rudolf Bruckner, einen Laboranten, und Szukalski verdrängte seine finsteren Befürchtungen und rannte die Stufen hinauf.
Zu seiner Freude stellte er fest, daß die Heizungen an diesem kalten Morgen funktionierten und daß es im Krankenhaus angenehm warm war. Während er durch den Korridor zu seinem Büro ging, kam ihm eine Schwester entgegen und gab ihm einen kurzen Bericht über den Zustand seiner Patienten. Als er an seiner Bürotür anlangte, beendete sie ihren Rapport: »Der Bauernjunge, der eine Hand verloren hat, wurde heute morgen von seinem Vater abgeholt, der unserer Medizin nicht mehr vertraut und es mit ein paar alten Hausrezepten versuchen will.«
Szukalski lächelte resigniert. »Die Bauern werden noch lange brauchen, bis sie endlich verstehen. Ich kann jetzt schon sagen, was passieren wird. Eine Zeitlang wird es dem Knaben mit diesen alten Hausmittelchen besser gehen, aber am Ende wird alles schlimmer, und ich werde ihm den ganzen Arm abnehmen müssen.« Er schüttelte traurig den Kopf.
»Noch etwas, Herr Doktor. Pfarrer Wajda ist heute morgen mit einem neuen Patienten gekommen. Ich habe ihn in Ihr Büro geschickt.«
Jan schaute auf die Tür. »Sehr gut, Schwester, ich danke Ihnen.«
Bevor er eintrat, zögerte er noch einen Augenblick und versuchte noch einmal an sein gestriges Versprechen dem Priester gegenüber zu denken.
Dann betrat er ruhig sein Büro und schloß leise die Tür hinter sich. Der junge Mann sprang sofort auf und rief: »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Doktor, aber der Herr Pfarrer hat mir gesagt, daß …«
»Schon gut. Setzen Sie sich nur.«
Sie musterten sich gegenseitig. Als Szukalski
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