Nachtzug
dient.«
Sie blieben im Licht einer Straßenlaterne auf dem Bürgersteig vor {144} Annas Elternhaus stehen. Um acht Uhr hatten sie sich bei Hans’ Großmutter eingefunden und ihre vorzügliche heiße Schokolade und den leckeren Kuchen genossen, der eine Spezialität des Hauses war. Das junge Pärchen hatte gelacht und sich unterhalten, und der Abend, der viel zu schnell vergangen war, näherte sich nun, zu dieser frostigen, mitternächtlichen Stunde, seinem Ende. Anna hatte sich schutzsuchend an Hans geschmiegt, und während sie im Schnee standen, versuchten beide, diesen letzten Moment ihres Zusammenseins immer wieder zu verlängern.
Hans Keppler hatte Anna Krasinska bis dahin nur erzählt, was er für richtig befunden hatte. Daß er bei der Waffen- SS war, daß man ihn eingezogen hatte und er seinen Dienst irgendwo in der Nähe von Oświęcim versah. Von seinem Verrat an seinem Land, seiner seelischen Not und dem, was er gemeinsam mit dem Krankenhausdirektor vorhatte, hatte er nichts erwähnt.
Annas Gesichtsausdruck war so unschuldig, von so jugendlicher Unbefangenheit und Gutgläubigkeit, daß nichts in der Welt ihn dazu hätte bewegen können, sie mit den harten Realitäten des Lebens zu konfrontieren.
»Du hast Babka gefallen«, sagte er und blickte in ihr zartes Rehgesicht.
»Deine Großmutter ist sehr lieb. Ich mag es, wenn sie dich Hansi nennt.«
Keppler lachte. Sein Arm um Annas Schulter, die Schneeflocken, die sanft um sie herum niederrieselten, und seine Zukunft, die jetzt dank Jan Szukalski etwas freundlicher aussah, alles bewirkte, daß der junge Deutschpole das Leben so unbeschwert nahm wie lange nicht mehr.
»Ich würde dich gerne meiner Familie vorstellen, aber …« brach sie ab.
»Ich verstehe, Anna, es ist schon in Ordnung. Was könntest du ihnen auch sagen? Doch nur die Wahrheit. Ich bin eben ein SS -Mann, und sie hätten sofort Angst vor mir. Und wahrscheinlich würden sie dir sofort verbieten, mich noch einmal zu treffen.« Er starrte durch den weißen Schleier, den der fallende Schnee bildete, und fügte traurig hinzu: »Bevor sie auf den Gedanken kommen, mich kennenlernen zu wollen, werde ich schon wieder im Dienst sein.«
Als Anna lächelte, war diese Geste so ehrlich und so voller Wärme, {145} daß sein Herz raste. »Weißt du«, sprach sie, ohne zu ihm aufzublicken, »ich will einfach nicht an das Ende deines Urlaubs denken. Ich habe schon so viele Menschen an den Krieg verloren, und wenn mein Vater nicht so alt gewesen wäre, hätte bestimmt auch er am Krieg teilgenommen und wäre gestorben wie alle anderen. Man hat mir die Zukunft genommen, Hans, und ich lebe immer nur für den jeweiligen Tag. Ich denke, daß es so am besten ist.«
»Verstehe«, murmelte er und neigte seinen Kopf, so daß er seine Wange gegen ihr Haar drücken konnte, »aber der heutige Tag ist vorbei; wir müssen über morgen nachdenken.«
»Morgen …«, hauchte sie. »Ich habe dich gerade vor vier Tagen im Zug kennengelernt und hatte Angst vor dir. Und jetzt sieh uns beide an.«
Er legte den Arm noch fester um sie und dachte über die wunderbare Fügung des Schicksals nach, durch die er Anna Krasinska kennengelernt hatte. Würde sein Glück fortdauern? Hatte er es überhaupt verdient? »Morgen wird im Kino
Dick und Doof
anlaufen. Sollen wir reingehen?«
»O ja«, antwortete sie kichernd. »Ich habe schon so lange keinen Film mehr mit den beiden gesehen. Es würde mir sehr gefallen.«
»Morgen abend?«
»Morgen kann ich nicht, aber übermorgen wäre ich einverstanden. Es wäre sehr schön. Hans …?«
»Ja?«
»Ich habe den ganzen Abend über etwas nachgedacht. Vielleicht sollte ich auch nicht fragen, aber ich bin eben neugierig.«
»Weswegen?«
»Es ist nicht gerade üblich, daß ein deutscher Soldat, äh …, Freundschaft mit uns schließt. Die Deutschen behandeln uns gewöhnlich wie Dreck. Ich bin neugierig …«
»Aber ich wurde doch in Sofia geboren, Anna. Ich bin mehr Pole als Deutscher.«
»Das meine ich nicht. Ich habe überlegt … Was werden wohl deine Kameraden sagen? Die anderen haben doch gewiß eine Meinung dazu.«
Obwohl es von der Straßenlaterne beleuchtet wurde, verfinsterte sich Hans Kepplers Gesicht, und er stellte sich seine »Kameraden« im La {146} ger vor. Drei von ihnen hatten, um sich die Zeit zu vertreiben, aufs Geratewohl einen Insassen geschnappt, einen Juden mit kahlgeschorenem Schädel, der den demütigenden gestreiften »Lagerpyjama« trug, hatten ihm dann
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