Nachtzug
die Hosenstulpen zugebunden und ihm von oben eine Ratte in die Hose gesteckt, um sich anschließend frenetisch lachend an seinen Qualen zu weiden. Seine Gedanken schweiften auch zu Helmut Schneider zurück, dem Sadisten, der eines Nachmittags einen Insassen zu Schießübungen verwendet hatte, indem er dem armen Kerl nach Art Wilhelm Tells eine Flasche auf den Kopf gestellt und aus ungefähr fünfzig Metern Entfernung auf sein Ziel gefeuert hatte. Der Häftling hatte dabei vor lauter Panik einen Herzschlag erlitten und Helmut Schneider auf diese Weise um seinen Spaß gebracht.
Das war es, was Keppler zu seinen Kameraden einfiel.
»Anna, ich trage jetzt Zivil, und ich glaube, daß keiner von ihnen ahnt, daß ich Soldat bin. Wenn sie mich fragen, werde ich ihnen meine Papiere zeigen.«
Nun drehte sich die junge Frau zu ihm um und neigte ihren Kopf zur Seite. »Weißt du«, meinte sie ruhig, »du bist nicht wie die anderen; du hast irgend etwas Besonderes an dir.«
Er beugte sich ein wenig vor, um sich ihrem Mund zu nähern, und entgegnete: »Auch du bist nicht wie die anderen, Anna. Übermorgen abend gehen wir in
Dick und Doof.
Ich will wieder mit dir zusammen lachen, wie heute abend. Bist du einverstanden?«
Sie antwortete ihm mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.
Dann ließ er sie plötzlich los und machte sich auf den Heimweg. Anna Krasinska blieb trotz der Sperrstunde noch einige Zeit stehen und sah ihm nach, während er in die eisige Nacht verschwand.
Als Dr. Szukalski und Piotr Wajda am nächsten Abend um acht Uhr zu ihr kamen, hatte Dr. Duszynska im Krankenhauslabor schon mit der Arbeit begonnen. Sie hatte den Kalbfleischaufguß aus ihrem Kühlschrank mitgebracht, um ihn unter dem Bunsenbrenner langsam zu erhitzen. Der Priester, angeleitet von Dr. Szukalski, holte die Glasgefäße aus dem Lagerraum und stellte sie in den Sterilisator. Danach bestimmte Szukalski sorgfältig die Menge der Zutaten, die nötig waren, um den flüssigen Kalbfleischaufguß in den gallertartigen {147} Nährboden zu verwandeln, auf dem er die Proteus-Bakterien ansiedeln wollte.
Pepton, zehn Gramm.
Natriumchlorid, fünf Gramm.
Agar-Pulver, achtzehn Gramm.
Szukalski bemaß die Bestandteile gewissenhaft und schüttete sie dann alle in einen Zwei-Liter-Kolben.
Maria rührte weiter den Aufguß an, der jetzt anfing zu kochen. »Er muß fünfundvierzig Minuten kochen«, erklärte Szukalski dem staunenden Piotr Wajda, »dann können wir die Bouillon in den Kolben mit den Chemikalien geben und alles zusammenmischen.«
Während sie Maria zusahen und jeder dabei seinen Gedanken nachhing, meinte der Pfarrer: »Jan, was glauben Sie, würde Dieter Schmidt mit uns anstellen, wenn er entdeckte, was wir hier tun?«
»Zuerst würden wir ihm erzählen, daß wir einen Fleckfieberimpfstoff herstellen, aber wahrscheinlich wäre es nach ein paar Stunden ziemlich schwierig, ihm zu erklären, wofür wir die Proteus-Bakterien brauchen. Und was er mit uns anstellen würde, das weiß …«
Maria rief nach hinten: »Ist der Inkubator bereit?«
»Ja, Piotr und ich haben uns letzte Nacht darum gekümmert. Und der Eisschrank steht auch bereit.«
Szukalski grinste unwillkürlich: »Mein neues Labor wird Ihnen gefallen, Maria.«
Als der Zeitgeber klingelte und anzeigte, daß die fünfundvierzig Minuten vorbei waren, stellte Maria den Bunsenbrenner aus. Dr. Szukalski legte eine Gazeschicht über einen breiten Trichter, den er in den Kolben mit den Chemikalien gesteckt hatte, und hielt ihn fest, während Maria die heiße Flüssigkeit einfüllte.
»Die Kolle-Schalen sind fertig«, meldete der Priester, dessen Aufgabe es gewesen war, sich um die Sterilisation zu kümmern.
»Gut, stellen Sie sie nebeneinander auf, und dann werden wir diese Brühe hineinfüllen.«
»Glauben Sie, wir würden hingerichtet, wenn sie rauskriegen, daß wir sie an der Nase herumführen wollen?« überlegte Piotr Wajda, während er zusah, wie die bräunliche, durchscheinende Flüssigkeit in die Schalen floß.
Szukalski beobachtete weiterhin alle Vorgänge sorgfältig.
{148} »Beten wir, Piotr, daß sie nur das mit uns tun«, entgegnete er. »Es ist gerade ein paar Wochen her, da haben sie uns eine Frau zur Behandlung gebracht, weil sie an Unterernährung und völliger Entkräftung litt, und sie hat uns, genauso wie der Zigeuner, etwas erzählt. Vor einem Monat waren die Deutschen in ihr Dorf gekommen, das hier in der Nähe liegt, Sie verstehen, Piotr? Sie hatten die Juden
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