Nachtzug
Zwanzig Meter weiter beobachtete sie Abraham Vogel, den jungen Violinisten, der geistesabwesend das Gewehr auf seinen Fuß richtete. Leokadja lächelte. Nein, sie sah keinen Soldaten vor sich, eher einen jungen Mann, der zum Träumen neigte und wie ein Dichter sprach, jemand, der nicht in diese Welt zu gehören schien. Und doch hatte er Mut, und dafür bewunderte sie ihn. Irgendwie wirkte er deplaziert, was aber für den Rest des versprengten Haufens, dessen Kämpfer sie im Dickicht des Waldes beobachtete, ebenso galt. Wenn es nicht um Leben und Tod gegangen wäre, hätte man meinen können, alles sei nur ein Spiel.
Die fünfundzwanzigjährige Partisanin war unendlich stolz auf ihre Kameraden, auf Esther Bromberg zum Beispiel, die, in einen Männermantel gekleidet, der ihr bis zu den Füßen reichte, fröstelnd in einer Schneewehe kauerte. Wenn man sie so betrachtete, mußte man befürchten, daß sie dort vornüber hinfiel, wenn sie das Gewehr nur leicht anhob. Oder auf den alten Ben Jakobi, der Soldat spielte und Bruneks Anordnungen mit militärischem Gehorsam befolgte: Seine Knie zitterten, während er geduldig unter den Kiefern wartete.
Leokadja hegte für alle großen Respekt, bemitleidete, liebte sie und bewunderte ihren Kampfeswillen, obwohl sie doch, wie der gesamte Widerstand in Polen, so wenige Vorteile auf ihrer Seite hatten.
Seit sie ihren Mann an die Wehrmacht verloren hatte, war die junge Frau aus Torun zu einer aktiven Widerständlerin geworden, die wie ein Mann kämpfte, die Gefahren mit ihren Landsleuten teilte und wild entschlossen war, Polen vor einer totalen Eroberung durch die Deutschen zu bewahren.
Sie hatte niemals die Hoffnung aufgegeben, daß ihr Mann noch irgendwo lebte, und trug sein Andenken und die Liebe zu ihm, aus der sie Kraft schöpfte, in ihrem Herzen. Seit zwei Jahren kämpfte sie nun {153} schon im polnischen Widerstand, zog von einem Gebiet ins andere und schlug Schlachten, um sich gleich darauf wieder einem anderen Kampf anzuschließen. Manchmal hatte sie sich auch organisierten Überresten der polnischen Armee angeschlossen, Luftwaffenpiloten, Marinesoldaten, Infanteristen und Kavalleristen, die sich als flexibel und kampferprobt erwiesen und mit fürchterlicher Macht zugeschlagen hatten. An anderen Orten war sie auf Gruppen gestoßen wie der, der sie gerade angehörte, ein Sammelsurium von Zivilisten, Alten und Jungen, von denen keiner für den Kampf ausgebildet war, die aber alle von einem glühenden Patriotismus getrieben wurden. Wind kam auf und ließ Leokadja schaudern. Aus der Ferne drang das Heulen eines einsamen Wolfes durch den Wald. Die Temperatur schien zu fallen, offensichtlich braute sich ein Schneesturm zusammen.
Doch dies tat der friedlichen Atmosphäre keinen Abbruch. Leokadja blickte die Gleise entlang und entdeckte, ungefähr dreißig Meter von ihr entfernt, den leidenschaftlichen jungen Juden David Ryż.
Er musterte sie, wie es oft der Fall war, aus seinen feurigen, schwarzen Augen, sein edles Gesicht finster verzogen. Das Gewehr unter dem Arm, hatte er sich mit gespreizten Beinen angriffsbereit im Schnee postiert und blickte die junge Frau, die sich ihm quer gegenüber befand, mit einem undurchdringlichen, intensiven Gesichtsausdruck an. Leokadja stellte fest, daß sie einmal mehr über ihn nachdachte. Seit sie vor fünf Tagen in die Höhle gekommen war, hatten sie nur wenige Worte gewechselt, aber wenn sie aufblickte, hatte sie oft bemerkt, wie er sie anstarrte. Leokadja wußte, welche Leidenschaften in seinem Herzen wüteten, weil sie eine gewisse Seelenverwandtschaft mit ihm erkannte. Die junge Frau spürte, daß sie David vielleicht besser verstand als jeder andere, und sie fühlte auch, daß er es wußte. Aber David Ryż war ein zorniger junger Mann, voller Mißtrauen gegenüber Nicht-Juden, der das Leben nur mit Bitternis betrachtete. In einer anderen Zeit, unter anderen Umständen, hätte sie jemanden wie David vielleicht lieben können …
Leokadja schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Seit der Trennung von ihrem Mann hatte sie sich von niemandem mehr berühren lassen. Es war jetzt keine Zeit für Liebe oder Zärtlichkeit, kein Anlaß – nicht in diesen Tagen des Krieges und des Blutvergie {154} ßens. Brunek und Antek waren freundlich zu ihr gewesen, hatten sie beschützt und ihr Essen mit ihr geteilt, aber sie hatten von Anfang an gewußt, daß sie sich von Leokadja als Frau nichts erwarten durften, und so hatten sie es
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