Nachtzug
ging Szukalski mit zwei weißen Tabletten und einem Glas Wasser zu ihm.
Keppler, von Panik ergriffen und fast wahnsinnig, musterte die Pillen mißtrauisch. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. »Ist das Gift?«
»Ja«, versetzte Szukalski, »und nach fünfzehn Minuten werden Sie tot sein. Um Gottes willen, natürlich ist es kein Gift, das sind Aspirin-Tabletten. Vertrauen Sie mir und nehmen Sie sie.« Alles, nur kein Vertrauen, war in den Augen des jungen Mannes zu lesen, als er die Pillen nahm und sie mit einem Würgen hinunterschluckte.
»Obwohl Sie sich in den nächsten vierundzwanzig Stunden besser fühlen werden«, erklärte der Doktor mit leiser, tuschelnder Stimme, »möchte ich, daß Sie so tun, als ob es Ihnen weiterhin schlecht geht, wenn eine der Schwestern kommt, um nach Ihnen zu sehen oder Ihnen Medikamente zu verabreichen.« Szukalski sah sich auf der Station um: Nur die Hälfte der Betten war mit schlafenden Patienten belegt, während die anderen Betten auf künftige Kranke warteten. Die diensthabende Schwester befand sich im Augenblick außerhalb der Station. Dennoch wagte Szukalski kaum zu flüstern: »Übermorgen werde ich Ihnen ein Medikament auf Bauch und Brust auftragen, das zu einem Ausschlag führen wird. Das Charakteristi {186} sche für Flecktyphus ist eben ein Hautausschlag, und wir müssen dieses Theater so wirklichkeitsgetreu wie möglich spielen, selbst vor den Schwestern. Ich muß Sie warnen, daß jeder hier im Krankenhaus ein Spitzel von Dieter Schmidt sein könnte, dem ich einen Bericht über Ihren Fall schicken werde, weil es sich um eine ansteckende Krankheit handeln könnte, die schon bei Verdacht gemeldet werden muß. Wir müssen jetzt jeden Schritt genau durchdenken, verstehen Sie?«
Keppler nickte.
Szukalski beugte sich noch etwas weiter herunter und murmelte: »Und wenn Dieter Schmidt oder einer seiner Leute auftauchen sollte, nur keine Angst. Wahrscheinlich werden sie mindestens genausoviel Angst haben wie Sie, wenn man berücksichtigt, wie sehr sie eine Ansteckung fürchten. Wahren Sie in jedem Fall den Schein.«
»Versprochen«, wisperte Keppler, der bald darauf einschlief.
Als sie am nächsten Morgen eng umschlungen aufwachten, stellten David und Leokadja fest, daß sie das neue Jahr gemeinsam begonnen hatten. Wortlos, denn es gab nichts zu sagen, brachen sie ihr Lager ab und ritten in der frühen Morgendämmerung zum Fluß zurück.
Ein paar Kilometer südlich der Höhle hielt David das Pferd im sicheren Dickicht eines Waldes an, band es fest und führte Leokadja unter den Bäumen hindurch. Als sie am Waldrand ankamen, bemerkte sie, daß er sie zu den Gleisen zurückgebracht hatte, die sich vor ihnen in der Ferne verloren. Als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, bedeutete er ihr mit einer Geste, sie solle schweigen. Dann lauschte er.
Bald darauf hörten sie das Pfeifen eines herannahenden Zuges. David legte sich flach auf den Schnee, und Leokadja, die überlegte, warum er sie hierher geführt hatte, tat es ihm gleich.
Eine Minute später tauchte der schwarze Zug hinter der Biegung auf und stampfte an den versteckten Spähern vorbei. Es handelte sich um einen langen Güterzug mit vielen versiegelten, unheimlichen Viehwaggons; einige waren allerdings auch offen und nur mit ein paar Brettern verschlagen, so daß man die Ladung erkennen konnte.
Aber statt Vieh transportierte dieser Zug Menschen, die man so eng {187} zusammengepfercht hatte, daß Hände und Arme zwischen den Brettern eingeklemmt waren. Man sah, wie sich gelegentlich ein Gesicht an eine Öffnung drückte, um nach Luft zu schnappen. Und während der Nachtzug langsam an ihnen vorbeirumpelte, hörten David und Leokadja einen Schrei, eine Wehklage der Verdammnis. Die beiden warteten ab und beobachteten still die Waggons und blieben noch lange schweigend liegen, als der Zug längst fort war. Nach einer Weile wandte Leokadja sich sanft an ihn: »David, wir müssen gehen; sie werden sich Sorgen um uns machen.«
Aber er rührte sich nicht. »Das ist unsere Armee«, stieß er zwischen seinen Zähnen hervor, »diese Züge müssen wir anhalten. Und ich werde es tun, auch wenn mir keiner hilft.«
Um sich nicht auffällig zu verhalten, versuchte Dr. Szukalski die nächsten zwei Tage, seinem neuen Patienten nicht mehr als die übliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Er hatte inzwischen festgestellt, daß im Zusammenhang mit Keppler seine arme Großmutter das größte Problem
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