Nachtzug
Vulkan gemahnte. Sein eckiges, stumpfes Gesicht war vor Erregung erstarrt, wenn man auch in den Winkeln seines schmallippigen Mundes sein klammheimliches Vergnügen erkennen konnte. Und während er sprach, leuchtete die tiefe Narbe, die seine linke Wange teilte, auf eine unnatürliche Weise. »Das sind Partisanen! Es sind dreckige, schmutzige, verlauste Schweine, die wegen ihrer Verbrechen gegen das Reich hingerichtet werden!«
Maria Duszynska spürte, wie sich eine eigenartige Lähmung in ihrem Körper ausbreitete, die von ihren Füßen aufstieg und sie allmählich in eine Salzsäule verwandelte. Der Soldat hinter ihr mußte sie, im Gegensatz zu einigen anderen, nicht mit der Waffe stoßen, um sie zum Zusehen zu zwingen, denn es war ihr einfach unmöglich, ihre schreckensgeweiteten Augen von dem Schauspiel abzuwenden. Und das Schweigen, in das sich die Menge hüllte, ein tieferes Schweigen, als sie es je in einer Kirche vernommen hatte, war so furchteinflößend wie ein lautes, entfesseltes Brüllen.
{192} Dieter Schmidt fuhr fort: »Dies soll denen als Exempel dienen, die mit dem Gedanken spielen, ein Verbrechen gegen das Reich zu begehen. Und wenn ihr so dumm sein solltet, zu glauben, daß euch so etwas nicht zustoßen kann, weil ihr unschuldig seid, dann merkt euch eins: Auch wenn ihr nicht aktiv an Aktionen gegen das Reich teilnehmt, werdet ihr als ebenso schuldig betrachtet werden, wenn ihr euch nicht gegen solche Aktionen stellt. Ihr seid fett und selbstgefällig geworden, das Reich war zu nachsichtig. Ab heute gilt: Wenn einer von euch ein Verbrechen gegen uns begeht, dann wird auch sein Nachbar hingerichtet!«
Die Menge schwieg betroffen.
Schmidt befahl seinen Leuten, die Gefangenen auf das Gerüst zu bringen. Die Frau und der junge Mann bewegten sich wie in Trance, die Gesichter reglos. Der ältere Mann, der vollkommen apathisch war, mußte an den Armen hochgezerrt werden. Unter jedem Opfer befand sich eine Falltür, aber der Strick war gerade so bemessen, daß sie möglichst kurz fielen, so daß sich ihr Todeskampf vor aller Augen abspielte.
Von Grauen erfüllt, beobachtete Maria, wie Schmidt den dreien die Schlingen um den Hals legte und sich dabei mehr Zeit zu nehmen schien als nötig. Der einzige, dem der fürchterliche Anblick erspart blieb, war der ältere Mann, unter dem sich die Falltür als erster öffnete. Die anderen beiden mußten dabei zusehen, wie er sich in den letzten Sekunden seines Todeskampfes wand und zuckte und wie am Ende seine Schließmuskeln erschlafften und er sich besudelte.
Dann kam der junge Mann an die Reihe. Und schließlich die junge Frau. Sie hatte nicht einen einzigen Laut von sich gegeben.
Jan Szukalski starrte immer noch ungläubig auf das Telegramm in seiner Hand, als er glaubte, ein leises Scharren an der Tür zu hören. Er blickte auf und spitzte die Ohren. Er hatte sich wohl getäuscht. Dann wandte er sich wieder seinem Telegramm zu. Da bemerkte er erneut das Scharren.
Als er dieses Mal aufblickte, sah er, wie die Tür sich einen Spalt öffnete, dann einen weiteren Spalt, so als versuche ein Windhauch in den Raum einzudringen. Neugierig geworden, erhob er sich vom Schreibtisch und ging zur Tür.
{193} Als er sie schließlich ganz öffnete, erblickte er draußen Maria Duszynska. Seine Freude, sie zu sehen, war so groß, daß er zuerst gar nicht ihren verwirrten Gesichtsausdruck wahrnahm; auch ihr merkwürdig mechanischer Gang, mit dem sie auf seine Aufforderung hin den Raum betrat, fiel ihm nicht auf, da er sich sofort wieder von ihr abwandte. Erst als er sich anschickte, ihr das Telegramm in die Hände zu drücken, bemerkte er den seltsamen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Er blieb sofort stehen.
»Maria, was ist los?«
Sie öffnete den Mund, und er glaubte zu hören, wie sie »Jan …« flüsterte.
»Maria!« Er ergriff ihren Arm und führte sie zu einem Stuhl, aber anstatt Platz zu nehmen, starrte Dr. Duszynska ihn immer noch mit leerem Blick an.
»Was ist denn los mit Ihnen, Maria?« Jan Szukalski fragte sich angesichts Marias Blässe, ob er nicht eine Leiche vor sich habe. »Was ist passiert?«
»O Jan«, seufzte sie völlig außer sich. »Dieter Schmidt, er …«
»Erzählen Sie doch«, Jan legte eine Hand auf ihren Arm, seine Stimme nahm einen drängenden Ton an, »erzählen Sie mir, was geschehen ist.«
»Er hat gerade drei Menschen gehängt.«
»Wie bitte!«
»Auf dem Marktplatz. Beim Rathaus. Zwei Männer und eine Frau. Er hat sie einfach
Weitere Kostenlose Bücher