Nachtzug
gefürchtete Krankheit überleben würde, da konnte Hans Keppler nicht anders, als sein Gesicht ins Kopfkissen drücken und weinen. Auch aus diesem Grunde hatte er Anna schließlich gebeten, ihn nicht mehr zu besuchen.
Szukalski nahm Keppler am siebten Morgen Blut ab, genau an dem Tag, an dem er sich wieder zum Dienst in Auschwitz hätte melden sollen. Die Blutprobe wurde an das von den Deutschen kontrollierte Laboratorium in Warschau geschickt. Am 9. Januar 1942 erreichte Dr. Szukalski dann ein Telegramm.
Als er den Umschlag aufriß und die Ergebnisse las, wich jede Farbe aus seinem Gesicht. Nur drei Worte kamen ihm über die Lippen: »Herr im Himmel! …«
15
Maria Duszynska hatte das beige Wolltuch, das man ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, sorgfältig verpackt und trug es fest unter dem Arm. Sie ging rasch die schmale Straße hinunter, die zu dem Geschäft der alten Frau führte, die gelegentlich für sie schneiderte. Es war ein wunderbarer Tag, aber obwohl die Sonne ihre wärmenden Strahlen vom hellblauen Himmel nach unten entsandte, war die Eis {190} schicht über dem Kopfsteinpflaster nicht abgeschmolzen. Die Straße führte direkt zum Marktplatz, den sie überqueren mußte, um zum Haus der Näherin auf der anderen Seite zu gelangen. Maria trat aus dem Dunkel der kleinen Straße heraus und war schon einige Schritte über den Platz gegangen, als sie den Auflauf vor dem Rathaus bemerkte.
Und als sie den gerade errichteten Galgen erblickte, blieb sie plötzlich stehen.
Aus einem Eingang in der Nähe tauchte plötzlich ein deutscher Soldat auf und richtete seine Waffe auf sie. »Mach schnell!« brummte er und befahl ihr, weiterzugehen.
»Aber was ist denn …?«
»Los, rüber; zu den anderen!«
Maria starrte fassungslos auf die Maschinenpistole.
»Schnell!« herrschte der Soldat sie an und trat näher, als wolle er ihr mit der Waffe einen Stoß versetzen. »Los, da rüber! Tempo, Tempo!«
Während sie vorwärtstaumelte, wurde ihr plötzlich vor Angst der Mund trocken. Dr. Duszynska nahm nur schemenhaft wahr, daß auch andere Menschen auf ähnliche Weise an dem Ort zusammengetrieben wurden, wo sich der Galgen befand, so daß jetzt ungefähr einhundertzwanzig Zuschauer, bewacht von ungefähr dreißig SS -Männern, auf dem Platz versammelt waren. Als sie schließlich am Rande der Menschenmenge zu stehen kam, den arroganten Soldaten nur einige Schritte hinter sich, sah Maria Duszynska, was sie sehen sollte.
Zwei Männer und eine Frau, denen man die Hände auf dem Rücken gefesselt hatte und deren bleiche Gesichter in einer merkwürdigen Art und Weise vor plötzlicher trauriger Fassungslosigkeit erstarrt waren, standen auf einem kleinen abgesperrten Stück des Platzes, das die Gestapo geräumt hatte. Der jungen Frau, die nur eine dünne Bluse und einen kurzen Rock trug, hatte man mit einem rauhen Strick ein Schild um den Hals gehängt, auf dem in deutscher und polnischer Sprache zu lesen war: »Wir sind Partisanen. Wir haben der Wehrmacht Benzin und Lebensmittel gestohlen.«
Auf dem Gesicht der jungen Frau zeigte sich keine Regung, nichts deutete auf ihre Gefühle hin. Sie stand wie hypnotisiert vor der Menge.
{191} Der ältere der beiden Männer, der ungefähr dreißig Jahre alt sein mochte, war halb verhungert und trug einen ungepflegten Bart, der das zitternde Kinn bedeckte. Er starrte mit unverkennbarem Schrecken auf den Galgen mit seinen drei Schlingen, die von einem breiten Balken herunterbaumelten. Der andere dagegen, ein junger Mann mit zarten Zügen, der wohl nicht älter als zwanzig Jahre war und ebenfalls keine warme Kleidung gegen die Kälte trug, flehte den Hauptmann an, das Leben der Frau zu verschonen.
Maria Duszynskas Magen zog sich zusammen, während sein leidenschaftliches Flehen über die unheimlich stumme Menge zu ihr herüberdrang.
»Bitte, bitte, sie hat nichts gestohlen! Sie hat doch kein Unrecht begangen! Nur er und ich sind die Schuldigen! Sie ist unschuldig, sie wußte nichts von dem, was wir taten. Bitte, bitte, um Gottes willen, wir haben doch Kinder!«
»Ruhe!« rief jemand von der Plattform des Gerüsts herunter, und alle blickten in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dieter Schmidt stellte sich in Siegerpose breitbeinig vor die Menge und schlug mit seinem Peitschengriff immer wieder auf einen Schenkel. Selbst aus der Ferne konnte Dr. Duszynska die finstere Bösartigkeit in seinen Augen erkennen, ein unheilvolles Flackern und Glühen, das an einen aktiven
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