Nachtzug
seines Nationalhelden Adam Mickiewicz suchte. Die Worte des Dichters ließen ihn nicht mehr los, wühlten ihn auf, wie es ein schlichtes Gebet niemals vermocht hätte. »Nun geht meine Seele in meinem Land auf …«
Er wandte sich um und betrachtete die beiden Personen, die ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaßen. Er fühlte, wie Dankbarkeit und Freude ihn erfüllten. Es war nicht leicht für sie gewesen, sich zu dieser späten Stunde durch die streng kontrollierten Straßen von Sofia zu stehlen. Für ihn waren sie inzwischen zu Kameraden geworden, denen er sich auf eine besondere Art und Weise viel enger verbunden fühlte als jemals einem anderen Menschen in seinem Leben.
{196} Er stellte fest, daß er selbst für Katarina, der seine unverbrüchliche Liebe galt, nicht die leidenschaftlichen Gefühle hegte, die er für seine beiden Kameraden übrig hatte: für den Priester, der seit vielen Jahren sein Freund war, und für seine engagierte Stellvertreterin, die er, so begann es ihm zu dieser mitternächtlichen Stunde allmählich zu dämmern, völlig unterschätzt hatte.
Seit einem Jahr kannte er Maria Duszynska nun schon, und zum erstenmal spürte er, daß er sie nicht nur bewunderte, sondern am liebsten nicht mehr von ihrer Seite weichen würde.
»Laßt uns fortfliegen …«, murmelte Szukalski mehr bei sich als zu seinen Gefährten. »Gelobt sei Gott, wir haben noch Flügel zum Umkehren. Laßt uns fliegen und von nun an nie mehr die höheren Sphären verlassen.«
»Was haben Sie gesagt?«
Er lächelte Piotr Wajda an. »Ich habe Mickiewicz zitiert. Er schaffte es immer, die Gedanken, die mich bewegen, in die richtigen Worte zu fassen.«
»Ich werde Ihnen sagen, was mich bewegt«, erwiderte der Priester und schaute auf die Uhr. »Ich frage mich, wo der Junge bleibt.«
Szukalski gefiel es nicht, daß Piotr Wajda so nervös war. Das Vorhaben, das sie in dieser Nacht zusammenführte, verlangte von allen absolute Selbstbeherrschung. Dennoch vermochte er dem Priester nachzuempfinden. Es würde keine angenehme Sache werden. Für keinen von ihnen.
»Ihre Entscheidung war richtig«, erklärte er ruhig.
Aber Wajda hatte ihn nicht gehört. Er starrte auf das Bild der Madonna.
Um Punkt Mitternacht vernahmen sie das erwartete Klopfen an der Tür.
»Treten Sie nur ein, Hans«, forderte Szukalski Keppler sanft auf, während er die Tür öffnete, »Sie kommen pünktlich.«
Der junge Mann schlüpfte herein. Er hatte seinen Pullover und eine Hose angezogen und knautschte seine Mütze in den Händen.
»Hat man Sie gesehen?« erkundigte sich Szukalski leise.
Keppler schüttelte den Kopf und schaute sich um. Er bemerkte sofort die unangenehme Stimmung, die in der Luft lag, und er fühlte sich unwohl, als er die reglosen Gesichter des Priesters und der Ärztin sah. {197} Er brauchte nicht lange, um festzustellen, daß irgend etwas anders war als sonst.
Er ließ rasch seinen Blick durch den ihm bekannten Raum schweifen, bis er schließlich auf einem Waschbecken in einer Ecke haften blieb. Er hatte das Becken, die Schüssel, den Stapel weißer Handtücher und die wenigen Waschutensilien, die dem Doktor gehörten, schon vorher gesehen; das einzige, was neu war, war das leuchtende und saubere, weit geöffnete Rasiermesser.
Während Keppler es anstarrte, stand Dr. Duszynska auf und ging zur Tür, die sie verriegelte, um sich dann anschließend davor aufzustellen.
Keppler richtete seinen Blick jetzt auf Szukalski. »Was ist los?« fragte er.
Szukalskis Gesicht war wie immer ausdruckslos, ebenso seine Stimme. Er zeigte sich als wahrer Vertreter seines Berufs. »Hans«, sagte er, »bitte setzen Sie sich.«
»Was ist denn passiert? Ist etwas schiefgelaufen? Die Testergebnisse waren doch positiv, Sie haben doch …«
»Ja, das waren sie. Aber da gibt es noch etwas …« Szukalski seufzte. »Hans, nur wir vier hier im Raum wissen von dem Experiment und daß es ein Erfolg war. Jetzt haben wir eine Chance, die Deutschen glauben zu machen, daß hier in Sofia und Umgebung eine Fleckfieberepidemie herrscht. Wenn alles gelingt, dann werden die deutschen Gesundheitsbehörden selbst diese Gegend zu einem Quarantänegebiet erklären und alle Militärbewegungen um uns herumleiten. Und wenn wir Glück haben, dann wird sogar das militärische Besatzungspersonal auf das absolut Notwendige reduziert. Es steht jetzt in unserer Macht, Tausende von Menschenleben vor den Nazis zu retten.«
Szukalskis Augenwinkel zuckten. Keppler fuhr
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