Nackige Engel
verwundeten Menschen wie mich. Der Opa, sagte die Anruferin, leide unter Depressionen und nehme in großen Mengen Johanniskraut. Ich stellte das Radio lauter, daraus konnte jetzt unsereinem nun wirklich einmal eine sinnvolle Handreichung erwachsen. Jetzt wolle der Opa das Kraut auch noch rauchen, damit es besser und schneller wirke. Donnerwetter, das war mein Mann! Opa und ich könnten uns eine dicke Tüte voll Johanniskraut bauen und gemeinsam durchziehen. Welche Telefonnummer hatte Opa? Aber wie so oft hatte der pragmatische Radioarzt kein Gefühl für die Bedürfnisse seiner Klientel und vermasselte Opa und mir die Tour. Johanniskraut müsse öllöslich aufbereitet werden, sonst wirke es nicht. Und damit war eine faszinierende Idee zu Grabe getragen, deren psychologische Strahlkraft allein schon gesundheitliche Wunder hätte wirken können. Trotzdem kramte ich in meiner Medikamentenkiste und schluckte eine Handvoll ölgelöster Johanniskräuter. Alkohol durfte ich ja nicht mehr, wollte ich auch nicht mehr, denn schon nach dieser kurzen Zeit spürte ich, wie sich mein Verhältnis zu dem großen Dämon rapide verschlechtert hatte. Er begann mich zu vergessen, und seine Aufrufe, ihm zuzusprechen, wurden bereits schwächer.
Vielleicht auch deshalb fühlte ich mich einsam wie selten zuvor. Abgeknipst. Sogar der Alkohol hatte mich verlassen. Ich gab mir einen Ruck und schnappte mir das Fahrfad. Hinaus ins Freie, um stimmungsmäßig wieder auf die Beine zu kommen!
16
Ich fuhr Richtung Flaucher. Ob der Flaucher ein Biergarten mit Park oder ein Park mit Biergarten ist, kann sich jeder selbst aussuchen. Selbst aussuchen konnte man sich auch die jahreszeitliche Verortung des Wetters. Von der Wittelsbacher Brücke aus sah man, dass schon wieder ein föhngedopter Frühlingstag heraufzog, der nach dem normalen Kalender bei uns noch gar nichts zu suchen hatte. Hinter den Bäumen, die das Hochufer säumen, spitzte die Sonne hervor. Sie setzte glitzernde Lichter auf der träge dahinziehenden Isar und hübschte den sonst graugrünen Fluss mit etwas frischem Blau auf. Durch die ungewohnte Helligkeit wirkte die Stadt auf einen Schlag schmutzig. Auf den Gehsteigen knirschte der ausgestreute Kies, die Kippen, Scherben, Pappbecher und Pizzaboxen waren von keinem barmherzigen Schneeweiß mehr zugedeckt und überall verteilt lag Hundescheiße, die neuerdings nicht mehr pur, sondern rot, schwarz oder braun eingebeutelt platt getreten wurde.
Föhn hin oder her, im Menschen kamen Glücksgefühle auf. Man hatte sich in monatelangem Widerstand gegen kriechende Nässe, zugige Kälte und rasiermesserscharfe Eiswinde aufgearbeitet, daher erweckte das freundliche Licht die Gewissheit, dass bald wieder wohlige Wärme und blühende Farben die Oberhand gewinnen. Mit ein bisschen Fantasie ließ sich darüber hinaus ausmalen, wie unsere südbayerische Sonne bald dermaßen auf die Isarauen herunterbrennen würde, dass Tiroler Nussöl mit Schutzfaktor dreißig nur noch im Fassausschank ausreichend unter die Leute gebracht werden konnte.
Einem Auswärtigen erklären zu wollen, was es mit unserem Föhn auf sich hat, ist normalerweise vollkommen sinnlos. Der Mensch außerhalb der Föhnzone kennt nur, landschaftlich angemessen, gutes und schlechtes Wetter. Der Münchner ist mit dem Fluch eines scheinbar guten Wetters wohlvertraut. Und das ist die Föhnlage. Feuchtheiße Luftmassen stauen sich an der Alpensüdseite, regnen sich ab, und so erleichtert wälzen sie sich über die Alpen. Was in München davon ankommt, ist ein warmer, trockener Fallwind. Der Föhn drückt von oben her auf die Schädelplatte, nachmittags vor allem, wenn er stockig wird. Je länger diese Wetterlage andauert, desto mürber wird der Mensch. Das Schädelbein mutet morsch an, als würde es vom gemeinen Holzbock perforiert, der mit seinen ständigen Tickgeräuschen als Taktgeber eines pulsierenden Kopfschmerzes amtiert. Solche Qualen hat der Münchner einem strahlend blauen Himmel samt lauem Lüftchen zu verdanken. Das barocke Lebensgefühl ist uns daher landsmannschaftlich in die Wiege gelegt. Man lernt durch solche schmerzlichen Erfahrungen, dass gerade das Schöne alle Anzeichen von Krankheit, Tod und Verderben schon in sich trägt.
Aber zum verwirrenden Spiel um dieses Wetter gehörte eben auch, dass man zunächst einmal darauf hereinfiel. Morgens vor allem, wenn die Kälte der Nacht erst langsam von dem warmen Wind durchfächelt wurde. Da war man einfach geneigt, an den
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