Nackige Engel
bin ich dann sowieso drüben im Schlachthof und unter Leuten.
Ich schlug ihm daher vor, dass ich abends wiederkommen würde. Wir könnten noch zusammen essen. Dann sei er über diesen ersten schlimmen Tag gebracht. Dankbar nahm er an.
An der Tür sagte er mir noch, ich solle dann einfach unten dreimal kurz klingeln. Als Zeichen, auf das hin er mir aufmachen würde.
Ich fuhr in meinen Laden zurück.
17
Im Geschäft war nichts Wesentliches passiert; Julius hatte alles gut im Griff gehabt und sogar eine Vase verkauft. Auch auf dem Anrufbeantworter waren keine Nachrichten gespeichert. Ich schmirgelte noch ein wenig an einem Bauernschrank herum, den ich verkaufsfein machen wollte, und dann wurde es ohnehin Zeit für meine abendlichen Betreuungspflichten. Vorsichtshalber steckte ich meinen Totschläger in die Jacke und fuhr mit dem Fahrrad zurück in die Au.
Ich klingelte, und es dauerte eine ganze Weile, bis er mir aufmachte. Vielleicht war er eingeschlafen. Ich fuhr mit dem Lift hoch, seine Wohnungstür stand offen.
– Komm rein, rief er, und mach die Tür zu.
Seine Stimme klang belegt. Ich schloss die Tür und ging Richtung Küche.
– Bin im Wohnzimmer.
Das Wohnzimmer war dunkel. Ich hatte ein verdammt komisches Gefühl, atmete schwer, als hätte man mir eine Klammer um die Brust gelegt. In dieser Wohnung lauerte etwas Ungutes. Ich zog meinen Totschläger hervor und bewegte mich unwillkürlich auf leisen Sohlen vorwärts.
– Der Lichtschalter ist links neben der Tür.
Ich tastete nach dem Schalter, und Licht flammte auf. Wolfertshofer saß stocksteif auf einem Stuhl. Er war mit Riemen festgebunden.
Drüben im Schlachthof war ich vor Jahren auf ein Kälbchen aufmerksam geworden, das sich wehklagend in die Ecke des Viehtransporters gedrückt hatte. Normalerweise wäre ich an dem Laster vorbeigegangen, aber die Schreie aus dem Hänger klangen so menschlich. Also stieg ich auf die Rampe, um mich zu vergewissern. Ein Metzger mit weißer Kappe und bis zum Boden reichender weißer Schürze versuchte, das Tier an einem Strick aus der Ecke hervorzuziehen. Das Kälbchen stemmte sich so sehr dagegen, dass es dem Mann nur gelang, den Schädel des Tieres nach vorne zu zerren. Durch die Schlinge wurde es stranguliert, die weit geöffneten Augen traten hervor, und die Augäpfel waren nach oben verdreht. Mehr sah ich nicht, denn der Metzger herrschte mich an, ich solle sofort verschwinden.
Diesen Blick einer gequälten Kreatur habe ich nie vergessen können, und an Wolfertshofer erkannte ich ihn sofort wieder. Gleich darauf klappte ich unter einem fürchterlichen Schlag auf den Hinterkopf zusammen. Der Hieb riss meinen Schädel nach vorne, ich krachte gegen einen der Holzbalken, die zur Stützung der Dachkonstruktion hatten stehen bleiben müssen, und schließlich wurde es stockdunkel um mich.
Untiere und Höllengestalten bevölkerten von da an mein Hirn. Aufgerissene Mäuler, klaffende Schlünde, messerscharfe Krallen. Darunter immer das Wehklagen des Kälbchens, das nun aber mit Wolfertshofers Stimme zu schreien schien. Zweimal glaubte ich, wieder in die Helligkeit des Wachbewusstseins vorstoßen zu können, doch jedes Mal traf mich ein schmerzhafter Blitz an der Schläfe, der mich in das Getümmel meiner Albträume zurückstieß.
Endlich öffnete ich die Augen. Schäfchenwiese mit Klatschmohn war der erste verfehlte Gedanke, der mir in den lädierten Kopf kam. Als ich ihn anhob, sah ich, dass ich auf einem weißen, mit Blutspritzern übersäten Berber lag. Zunächst kämpfte ich mich auf alle viere, erst dann gelang es mir, mich hochzurappeln. Glücklich ins Stehen gekommen, erfasste mich ein heftiger Schwindel. Benommen wie das Kälbchen nach der Elektroschockbetäubung schwankte ich, bekam aber einen Balken zu fassen. Mit beiden Händen klammerte ich mich an ihm fest und versuchte die Milchsuppe, in die der ganze Raum getaucht war, klar zu kriegen.
So hatte ich keine Chance. Ich stolperte nach draußen ins Bad, drehte den Hahn auf und hielt meinen Kopf unter den eiskalten Wasserstrahl. Da waren sie wieder, diese stechenden Schmerzen, die mir vorher im Traum begegnet waren. Ich betastete die Beulen, die sich in der Schläfengegend aufwölbten, und meinen Kiefer, der sich anfühlte, als hätte man ihn aus seinen Gelenken herausgebrochen. Minutenlang hing ich so über dem Waschbecken und sah zu, wie sich ein blutrot gefärbter Strudel in den Ausguss wand und dann langsam eine zarte Rosatönung annahm. Ich holte
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