Nackige Engel
Frühling zu glauben, und das merkte man den Fußgängern an, denen ich begegnete. Sie wirkten freier und nicht mehr so winterlich in sich verklammert. Auch der Autofahrer ging aus sich heraus: Ein betagtes, offenes Cabrio sägte mit dem Geräusch meines alten Remingtonrasierers vorbei. Als ich mein Fahrrad bei der Braunauer Eisenbahnbrücke abstellte, kam mir eine junge Mutter mit Doppelkinderwagen auf großen Rädern entgegen, die neuerdings die wuchtigen Ausmaße eines Stubenwagens haben. Sie war luftig gekleidet, übernächtigt bleich und ausgezehrt, wirkte dabei aber hormongesättigt glücklich. Was bei der aufopfernden Brutpflege herauskam, konnte man an den beiden Mädels feststellen, die vor der Schule noch eine gemeinsame Runde drehten. Die eine trug ihr Handy vor sich her und drückte mit flinken Daumen Tasten, sodass es aussah, als hätte ihr der liebe Gott persönlich eine Fernbedienung überreicht, mit der sich die ganze große Welt nach ihrem Belieben steuern ließ. Die andere erzählte ohne Punkt und Komma, so wuselig schnell und unverständlich, dass nur hängen blieb, dass sie ziemlich viel ziemlich porno fand. An der Schinderbrücke schließlich näherte sich ein junger Mann beschwingten Schritts. In der Hand hielt er eine dieser Edelstahlbomben mit einer Literfüllung Kaffee, der Ration eben, die ein Angestellter braucht, um die lückenlose Koffeinversorgung von der Wohnung zur Arbeit aufrechtzuerhalten.
Ja freilich, München könnte so schön sein! Der Spaziergang tat mir gut. Der Kopf wurde durchgelüftet und die Gespenster der Nacht vertrieben. Eine Zeit lang zumindest vergaß ich, was mich so gepeinigt hatte.
Wie fragil meine Laune jedoch war, stellte ich fest, wenn ich in den Schatten geriet. War das Licht verschwunden, wurde die Gemütsverfassung sofort beeinträchtigt. Sicher, München ist schön, aber nur für die ohnehin schon Glücklichen. Für Nöte aller Art ist diese Stadt kein geeignetes Pflaster. Problemträger sind hier unerwünscht, weil sie die gute Laune verpesten. Bedrängnisse und Zwangslagen sollte man daher besser auswärts lösen und anschließend wiederkommen.
Mein Handy klingelte.
– Gossec, du musst mir helfen!
Wolfertshofers Stimme hatte sich verändert. Er schnaufte schwer und hektisch. Die Panik war ihm eingeschrieben.
– Was ist los?
Er zögerte.
– Ich werde unter Druck gesetzt und bedroht. Brutal. . .
– Was denn? Ein Brief?
– Nein, übers Telefon. Ich habe Angst, dass mir die Tür eingetreten wird.
Genau das hatte ich nach Maiks Hinweisen befürchtet. Offenbar hatten sie ihn nun doch ausfindig gemacht.
– Habe ich dir ja gesagt, da kommt noch was nach. Das lassen sich die Braunen nicht gefallen. Durch diese Hitlernummer fühlen die sich total verarscht.
Er brummte.
– Hast du die Polizei schon verständigt?
– Kann ich doch nicht bringen.
– Wieso?
Er wurde ungehalten und begann herumzuschwadronieren. Dass er in Wunsiedel beim Heß-Gedenkmarsch als Prellbock ganz vorne gestanden sei, sich aber genauso auf alle Händel mit dem Staatsanwalt und der Polizei eingelassen habe, weil ihm irgendwelche Auflagen für die Gegendemonstrationen am Arsch vorbeigingen.
– Verstehst du? Einer wie ich kann nicht hingehen und die Staatsmacht um Hilfe anbetteln. Das kommt raus, das steht in der Zeitung. Diese Häme dann! So was muss man doch unter Freunden regeln können, oder?
Ich überlegte, wie ich ihm helfen konnte.
– Okay, ich komme vorbei.
– Danke.
Wolfertshofer nannte mir seine Adresse. Er wohnte in der Au, unweit des Schyrenbads. Dann rief ich Julius an, erzählte ihm kurz, was Sache war. Ich bat ihn, ein Schild mit seiner Nummer draußen in die Tür zu hängen, sodass sich Kunden bei ihm melden konnten. In dringenden Fällen konnte er reagieren. Mit meinem Laden kannte er sich inzwischen gut genug aus. Und von seinem Hinterhofbüro in der Zenettistraße brauchte er keine zwei Minuten dorthin.
Ich ging zu meinem Fahrrad und fuhr über die Isar in die Au. Zur angegebenen Adresse war es nicht weit, und so erreichte ich rasch Wolfertshofers Haus. Ein Klingelschild war nicht angebracht, aber er hatte erwähnt, dass er ganz oben im Dachgeschoss lebe. Wie in Altbauten üblich, hatte man den Lift außen angebracht und so fuhr ich in einer Glasröhre in den fünften Stock hinauf. Wolfertshofer hatte mich schon erwartet und stand in der Tür. Seine Wohnung war großzügig ausgebaut, um einen atriumartig hohen Raum in der Mitte herum waren die
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