Nackige Engel
in Reiseführern noch nicht einmal unter der Rubrik Ausflüge genannt wird. Aber genau deshalb stellt es eine der letzten Bastionen alteingesessener Einheimischer dar, die nicht einen x-beliebigen Frieden suchen, sondern ihre Ruhe.
Warum die leichte Steigung nach Giesing hinauf die martialische Bezeichnung Berg trägt, konnte ich noch nicht einmal mit dem Fahrrad nachvollziehen. Aber vielleicht hat der aus dem Isartor kommende, munter Richtung Alpen ausschreitende mittelalterliche Mensch die erste Steigung gleich als das genommen, was ihn später erwarten würde: Berge, Berge und nochmals Berge.
Kurz danach war ich am Ziel, an der Bäckerei Zindl zunächst. Von der Heilig-Kreuz-Kirche her schlug es fünf Uhr. Ich umrundete einmal den Block und hielt Ausschau nach Wolfertshofers Zuflucht. Danach war ich ganz sicher, dass nur die eine Hinterhofgarage für das Atelier in Frage kam. Die in den fünfziger Jahren gebaute Schachtel hatte damals nicht nur einem Opel Kapitän des Hausherrn genügend Platz geboten, sondern auch noch seinem Pritschenwagen. Später war sie offenbar zur Werkstatt geworden – darauf wies ein verwittertes Schild hin –, bis sie mit einem gläsernen Dachaufbau zum Atelier umgestaltet worden war. An den Außenwänden rankten sich aus Holzkästen Kletterpflanzen, die schon ein erstes zartes Grün ausgetrieben hatten. Die Garage verfügte über eine eigene schmale Zufahrt, an deren Seite Büsche und Nadelbäume wuchsen, und war damit so sichtgeschützt, dass ein Fremder nicht weiter auffallen musste. Der Charme dieser Lokalität leuchtete sofort ein: Hier konnte man ein ungestörtes Inseldasein genießen.
Schon im zweiten Versuch ließ sich das Vorhängeschloss öffnen, auch der Türschlüssel war bald gefunden. Dem ersten Überblick nach machte das Atelier einen gemütlichen Eindruck. An den Wänden standen Regale, in die Bücher und Manuskripte gestopft waren. Auch an ein Podest war gedacht, auf dem Wolfertshofer das nötige Bühnengefühl hersteilen konnte. Es gab fließendes Wasser, dazu zwei Kochplatten, und im fensterlosen Nebenraum befanden sich eine abgeteilte Toilette sowie ein Klappbett. Ein solches Lager vor allem war mir gerade recht. Eine ganze Zeit lang hatte ich zwar schon auf einem Teppich liegend verbracht, dieser Schlaf war jedoch alles andere als erquickend gewesen. Das Weitere ergab sich zwanglos: Das Bett sehen und einschlafen waren eins.
20
Eigentlich wollte ich überhaupt nicht mehr aufwachen. Als ich gezwungenermaßen dann doch die Augen aufschlug, war es bereits Spätnachmittag. Das wurde mir aber erst später klar. Zunächst verfluchte ich die Motorsäge da draußen und vergrub mich ins Kissen. Dabei realisierte ich, dass ich nicht im gewohnten Bett lag. Ich fuhr hoch und versuchte, in der dunklen Koje Orientierung zu gewinnen. Dank des ausgiebigen Schlafs hatte ich eine dünne Schicht des Vergessens auf die schrecklichen Ereignisse des gestrigen Tags häufeln können. Das aggressive Wimmern der Säge kickte mich wieder in die Realität zurück. Der erste Gedanke war ähnlich instrumentiert, er traf mich wie ein Hammerschlag: Wolfertshofer ist tot! Noch im Aufstehen begann ich mit mir über das Ausmaß meines Verschuldens herumzurechten. Bescheißen konnte ich mich dabei, so viel ich wollte, aber das Schlusswort hatte mein Gewissen, und das dachte nicht daran, sich gefügiger zu geben.
Der Schlaf hatte mir dennoch gut getan. Der lädierten Visage war das nicht anzusehen, aber von innen her fühlte es sich deutlich besser an. Was ich im Spiegel sah, war nach der herrschenden Lehre der Bulldoggenzüchter der freundlich-grimmige Appeal eines reinrassigen Rüden, farblich fiel ich allerdings mehr ins Zwetschgenfach. Spätestens morgen würde mein vitaler Bartwuchs einiges zur Kaschierung beitragen.
Fluchtbereit zu sein, hielt ich für klug. Ich verräumte das Bett wieder, alles andere würde in dem schöpferischen Chaos des Ateliers nicht weiter auffallen. Vorsichtshalber schnürte ich noch mein Ränzel und packte es draußen aufs Fahrrad. In den Häusern rundum gab es glücklicherweise keine neugierigen Nachbarn, die ihren Kopf ganztägig aus dem Fenster streckten.
Mein Magen knurrte, und ich machte mich auf, Essbares in meine Höhle zu schaffen. Gerade als ich von meiner Zufahrtsallee auf den Gehsteig abbiegen wollte, kam mir der Beamte im Außendienst entgegen, bei dem ständige Freundlichkeit Teil der Arbeitsplatzbeschreibung ist: der Giesinger KOB. Durch seinen
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