Nackige Engel
voll Empfindsamkeit. Einer, der das Gute wollte, aber Unheil anrichtete. Ein Kerl, der keinen Irrweg ausließ, aber dennoch ein wertvoller Mensch.
Und wenn ich mich nun von diesem Drang, wieder einmal auszuscheren, leiten ließ, dann war vollkommen klar, dass ich eine geradezu tierische Lust auf einige Glas Weißbier hatte. Wenn ich an nichts mehr schuld war, dann war auch der Alkohol freigesprochen, und es gab überhaupt keinen Grund mehr, ihn noch weiter mit Missachtung zu strafen.
Ich rief Julius an.
– Wirtshaus Giesing, sagte ich im Befehlston.
– Hä?, machte Julius.
– Weißbier!
– Fastenzeit schon zu Ende?
– Erbarmen, sagte ich. Das Schicksal hat Erbarmen mit mir gezeigt. Ich war es nicht. Wenn dir das kein Glas wert ist!
– Kannst du mal zusammenhängend reden?
– Alles später im Krug!
Bald schon perlte der Champagner des kleinen Mannes im Glas, und die Wiedersehensfreude war groß. Julius war große Erleichterung anzumerken, denn auch er hatte sich verantwortlich gefühlt, weil er meine Verrücktheiten immerhin geduldet hatte.
Nachdem wir einige Male angestoßen und uns warmgeredet hatten, bat ich Julius um seine Aufmerksamkeit für eine Sache, die mich sehr belasten würde.
– Hätte ich mir denken können, dass dein Freispruch noch einen Haken hat.
Gequält schaute er mich über sein Bierglas an.
– Ich brauche aber deinen Rat.
Anschließend erzählte ich ihm die ganze Geschichte von Stan und mir.
– Und, fragte ich, was würdest du an meiner Stelle tun?
Julius schüttelte den Kopf.
– Ich verstehe gar nicht, warum du mich das fragst. Du musst ihn zur Rede stellen, ihm aber auch eine Chance geben, sich zu verteidigen. Was denn sonst? So jedenfalls würde ich mir das von dir in meinem Fall erwarten.
Klare Ansage, aber er hatte recht. Wir tranken noch ein letztes Glas und machten uns dann auf. Die Föhnlage war zusammengebrochen und die Temperatur nach unten gesackt. Ich wollte noch das Fahrrad und meine Sachen aus Wolfertshofers Atelier holen. Julius sagte, den Bus könne er morgen mitnehmen, er habe in der Nähe zu tun. Zum Abschied umarmten wir uns.
28
In beschwingten Schritten steuerte ich die Garage an. Als ich vor der Eingangstür den Schlüssel herauskramte und aufzusperren versuchte, hatte ich das ungute Gefühl, dass hier etwas faul war. Der Schlüssel hakte, das Schloss wies Kratzer auf. Hier war jemand mit einem professionellen Satz Dietriche und Haken als Knacker tätig geworden. Innen sah alles wie zuvor aus. Keine Schublade, kein Schrankfach war durchwühlt worden.
Dann sah ich die Lücke im Regal. Der Prag-Bildband fehlte. Ich ließ mich in den Sessel fallen. Der Bildband mit dem Dossier!
Um jeden Irrtum auszuschließen, überprüfte ich noch einmal das ganze Atelier. Aber es fehlte nichts weiter, kein Möbelstück wies Kratz- oder Hebelspuren auf, auch die verschlossene Metallkassette war noch an ihrem Ort. Jemand hatte gezielt wegen des Bildbands hier eingebrochen.
Ich packte meine Sachen in den Rucksack. Dann filzte ich das Regal nach Resten, der Grußkarte, die als Widmung eingelegt war, aber alle Krümel waren weggefegt. Schließlich blätterte ich das Adressbuch neben dem Telefon durch, eine Abteilung unter dem Buchstaben E existierte nicht mehr. Sie war komplett herausgerissen. Nichts mehr in diesem Raum wies darauf hin, dass Wolfertshofer mit Eyerkauff einen Helfer im Rücken hatte, der ihm zuarbeitete. Alle Hinweise auf ihn waren getilgt, als hätte er nie existiert.
Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
– Guten Abend, sagte eine Frauenstimme in der vertrauten süddeutschen Modulation, deren Wellencharakteristik keine Spitzen, sondern nur Rundungen aufweist.
Ich fuhr herum und blickte in das durchaus freundliche Gesicht einer jungen Polizistin. Unsereiner machte immer wieder den Fehler, sie nicht ernst zu nehmen. Eine Krankenschwester sah noch nie wie ein verkleideter Arzt aus. Die Beamtin jedoch trägt Männerkleidung. Die Außendienstuniform aus schwarzer Lederjacke, moosgrüner Funktionshose in Winterausführung, wasserabweisender, schwer entflammbarer Schirmmütze mit Oberstoffbiese und Lüftungsperforation am Deckelrand gestattet Frauen auf der Kriminalbühne nur eine Hosenrolle. Fehlten eigentlich nur noch der angeklebte Schnurrbart und der Degen.
So harmlos der erste Eindruck war, so Furcht einflößend war der zweite: In der Tür stand ihr Kollege mit gezogener, auf mich gerichteter Waffe. Sie tastete mich ab. Wie gut, dass
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