Nackt unter Wölfen
Denkfunktion. Er hatte noch Gedanken, ganz deutlich erkannte er sie. Doch sie waren ohne Zusammenhang untereinander. Der Gaumen war ihm trocken und wie mit Papier ausgeklebt. Doch das gehörte jetzt mit zu seinem Zustand, und Pippig verspürte nicht das Bedürfnis nach einer Erfrischung. Lange lag er reglos und lauschte mit Neugier in seine Schmerzen hinein. Der Bulle hatte ihn, als er am Boden lag, mit der Stiefelspitze in Hüften und Kreuz getreten. Mit den Nieren musste etwas nicht stimmen. Hier schien der Brandherd des Feuers zu sitzen. Kann man an kaputten Nieren sterben? Darüber wunderte sich Pippig. Doch der Gedanke schwamm fort, und neue tauchten auf. Wie gut, dass ich die Pistolen … noch rechtzeitig … einen Tag später, und …
Pippig stöhnte. Plötzlich fiel ihm Rose ein. War er nicht zur Vernehmung geholt worden? Ein Lichtstrahl hatte in der Zelle herumgegeistert, das wusste Pippig noch. Eine Stimme hatte er gehört. Dann war Stille gewesen, eine große Stille. Pippig erschrak. Wie viel Zeit war inzwischen vergangen? – Das Dunkel in der Zelle stand reglos und starr um ihn wie etwas Abgestorbenes. Wo war Rose? Was war inzwischen geschehen? Pippig fühlte, wie sein Bewusstsein sich wieder trübte, als sähe er durch eine regennasse Scheibe, die ihn nichts mehr erkennen ließ. {Angst, heiß und drängend.}
»August!« Der Ruf war ein entsetzlicher Schrei, aber nur in Pippigs Innerem, wie in einem Gewölbe. Tatsächlich kam er nur noch als gequälter Hauch aus trockenem Mund.
Rose, im schwebenden Zustand zwischen Wachen und Schlaf, schreckte auf, saß mit einem Ruck steif auf demStrohsack und lauschte angststarr, nicht wissend, ob er den Ruf gehört oder geträumt hatte. Da vernahm er wieder seinen Namen, so schwach und vertrocknet, als wäre er in die einzelnen Buchstaben zerbröckelt. Mit einem Satz war Rose neben Pippig. Der fühlte Lebendiges und bemühte sich, durch das Verschwimmende vor seinen Augen zu dringen. Es gelang ihm nicht. {In dem hohlen Gewölbe war alles voller Widerhall, und die Worte, die er sprechen wollte, taumelten schreiend von einem Echo zum anderen.} Pippig brachte keinen Laut mehr aus sich heraus. War es das Blut, das in ihm raste, oder das Wildpochende in der Brust? Sein Atem flackerte.
Auf einmal war draußen im Gang ein hastiges Laufen zu hören, es kam schnell heran. Der Schlüssel krachte ins Schloss, die trübe Lampe an der Decke flackerte auf, und an dem SA-Mann vorbei, der die Tür aufgestoßen hatte, stürzte Gay in die Zelle, mit beiden Fäusten auf Rose losboxend, dass dieser rückwärtstaumelnd den Halt verlor.
»Du Schweinehund, du verfluchter! Angeschwindelt hast du mich!« Gay schüttelte Rose wie einen Ast. Hinter den Zellentüren war aufgescheuchtes Wachsein. Die übrigen acht Häftlinge der Effektenkammer, durch den Lärm jäh aus dem Schlaf gerüttelt, standen angstgepresst an den Türen.
Gays Wut ging rasend mit ihm durch. Er riss und beutelte Rose hin und her, schrie, schlug, trat. Rose fuchtelte wie unter einer herabstürzenden Lawine mit den Armen über dem eingezogenen Kopf, erbärmlich jammernd:
»Ich habe Ihnen alles gesagt, Herr Kommissar. Bitte, bitte! Mehr weiß ich nicht!«
»Wer weiß es?«, schrie Gay und trommelte Rose in eine Ecke hinein.
»Nicht schlagen, Herr Kommissar! Pippig weiß es, der weiß alles. Ich habe damit nichts zu tun.«
Blindwütig riss Gay Pippig von der Pritsche herunter, derKörper blieb reglos liegen. In feiger Angst schrie Rose kreischend um Hilfe.
Der SA-Mann, den Gummiknüppel in der Faust, sprang Rose prügelnd an: »Willst du die Schnauze halten!«
Brüllend trat Gay auf den Reglosen ein. Wahllos, wohin der Stiefel traf.
»Rede, Mensch, ich zertrample dich!« Wie ein Irrsinniger bearbeitete er den Körper mit den Stiefeln.
Doch der Tod war wohltätig. Längst schon hatte er die schützende Hand auf das einst so fröhliche Herz gelegt …
Die Häftlinge in den verschiedenen Zellen klebten an den Türen. Sie hörten, wie jene Zelle verschlossen wurde, und sprangen zurück, als heftige Schritte vorbeikamen. Dann standen sie schweratmend, suchten sich im Dunkeln mit den Blicken, als sich der entsetzliche Riss der Nachtstille geschlossen hatte, und sprachen kein Wort miteinander. Aber ihre Gedanken rumorten. –
Schon am frühen Morgen gluckten die Blockältesten bei Krämer herum, dem sie ihre Bestandsmeldung für den Appell brachten.
»Was war heute Nacht im Kleinen Lager los?«
»Kluttig soll auf
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