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Nackt unter Wölfen

Nackt unter Wölfen

Titel: Nackt unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Apitz
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aufs tiefste erregt, Bochows Einwand nahm ihm alles weg. »Nun gut«, sagte er nach ein paar Schritten, »dann werde ich das Kind morgen zum Tor bringen.« Bochow schüttelte den Kopf: »Willst du eine Dummheit durch die andere ersetzen?« Höfel wurde ungehalten. »Entweder ich verberge das Kind, oder ich gebe es ab!« – »Du bist mir ’n Stratege …«
    »Was soll ich denn machen?« Höfel riss die Hände aus den Taschen und breitete sie hilflos aus. Bochow wollte sich von Höfels Erregung nicht einfangen lassen. Um sie in dem Kameraden selbst niederzuhalten, sagte er in seiner sachlichen und ein wenig unbeteiligten Art: »Ich habe auf der Schreibstube gehört, dass ein Transport abgeht, und werde dafür sorgen, dass der Pole dazugetan wird. Du gibst ihm das Kind mit.« Höfel erschrak über den harten Entschluss. Bochow blieb stehen, trat dicht an Höfel heran, blickte ihm nah in die Augen. »Was sonst?« – Höfel atmete schwer. Bochow spürte, was in diesem vor sich ging.
    Im Abwägen der Notwendigkeiten wogen am schwersten die Pflichten hier im Lager. Konnte Bochow, den das ILK zum Verantwortlichen für die Widerstandsgruppen bestimmt hatte, zulassen, eines Kindes wegen den militärischen Ausbilder der Gruppen in Gefahr zu bringen oder sogar diese selber? Oder den ganzen mühselig aufgebauten Apparat? Dazu den Lagerschutz, der nach außen eine völlig legale Einrichtung, in Wirklichkeit aber ein ausgezeichneter militärischer Verband war? Man wusste nie, was aus einer harmlosen Sache alles entstehen konnte. Ein kleines Kind gibt den Anstoß, und mit einem Schlage rollt die Lawine des Verderbens über alle und alles hinweg. Das ging Bochow durch den Kopf, als er sich Höfel betrachtete. Er wandte sich wieder zum Gehen und sagte fast traurig: »Manchmal ist das Herz ein sehr gefährliches Ding! Der Pole wird schon wissen, wie er mit dem Kind zurechtkommt. Hat er es bis hierher gebracht, bringt er es auch noch weiter.« Höfel schwieg noch immer. Sie waren am Revierweg abgebogen und standen jetzt zwischen den Baracken. Hier war es einsam. Der kalte Schauerregen machte die beiden frösteln. Sie konnten im Dunkeln ihre Gesichter kaum erkennen. Höfel hatte die Hände tief in die Taschen geschoben, die Schultern frierend angedrückt. Er machte keine Anstalten zu gehen. Bochow packte ihn an der Schulter, rüttelte ihn. »Mach keine Geschichten, André«, sagte er mit warmem Ton. »Leg dich in deine Kiste, ich gebe dir noch Bescheid.«
    Sie trennten sich.
    Bochow sah Höfel nach. Mit müden Schritten ging der davon. Ein Bedauern wollte Bochow übermannen, von dem er nicht wusste, wem es galt, Höfel oder dem Kind oder jenem fremden Polen, dem es unbekannt war, dass über sein Schicksal in diesem Augenblick entschieden worden war. Entschieden durch Häftlinge, durch seinesgleichen, die aus dem Zwang einer Situation heraus Gewalt über ihn hatten.Bochow schüttelte die Gedanken ab. Hier musste schnell und furchtlos gehandelt werden. Er überlegte kurz. Rasch zum Block zurück! Runki, sein Blockältester, wollte soeben die ausgefüllte Bestandsmeldung zum Lagerältesten nach der Schreibstube bringen, als ihn Bochow an der Tür des Blocks abfing. »Gib her, Otto, ich bringe sie selber hin.« – »Ist was los?«, fragte Runki, dem Bochows besonderer Ton auffiel. »Nichts von Bedeutung«, entgegnete dieser. Runki wusste, dass Bochow zu dem Kreis alter Lagerkumpels gehörte, deren Wort galt. Von Bochows Zugehörigkeit zum ILK und dessen Existenz hatte er keine Ahnung. Unter den politischen Häftlingen war das Gesetz der Konspiration wirksam – das sie alle durch bedingungsloses Vertrauen miteinander verband. Es gab keine Neugier, nur wissendes Schweigen über alles, was im Lager zu geschehen hatte. Es gab eine strenge innere Disziplin und das Bewusstsein der unbedingten Zusammengehörigkeit, das keine unbedachten Fragen ließ für Dinge, die man nicht zu wissen brauchte. Es gab eine selbstverständliche Unterordnung: Wichtigem durch Schweigen zu dienen. – So schützten sie sich gegenseitig und bewahrten Geheimstes vor Entdeckung. Der Kreis dieser Häftlinge war groß und über das ganze Lager verbreitet. Überall Genossen, die das in Schweigen eingebettete Wissen im Herzen trugen. Die Partei, der sie verbunden waren, war mit ihnen im Lager, unsichtbar, ungreifbar, allgegenwärtig. Gewiss trat sie bei dem einen oder anderen Genossen sichtbar hervor, jedoch nur immer für den, dem es erlaubt war, sie zu sehen. Sonst

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