Nackt unter Wölfen
Regelrecht geklaut von einem der Häftlinge, die die Saufenden zu bedienen hatten. Niemals war der Täter herausgekommen, denn solche Kühnheit traute selbst der verbissene Kommunistenfeind Kluttig einem Häftling nicht zu. Er hatte einen seiner Saufkumpane im Verdacht. Welch eisigkalte Gelassenheit gehörte für jenen
einen
dazu, nach dem Gelage mit seinem Kommando der Kellnersklaven ins Lager einzurücken und – vorbei an der SS – unter der Kleidung eine 7,65 durchs Tor zu tragen? – Diese eisige Kälte spürte Höfel jedes Mal, wenn er die kostbare Waffe in der Hand hielt, jedes Mal, wenn er sie aus ihrem Versteck nahm und sie an seinem Körper verbarg, um zur Unterrichtsstunde zu gehen, durchs Lager, an ahnungslos grüßenden Freunden vorbei, vorbei an so manchem SS-Mann. Da spürte er das kalte Metall an seinem Körper. –
Und immer war es gutgegangen!
Plötzlich aber kam ein kleines Kind ins Lager! Ebenso heimlich und gefahrvoll wie damals jene Walther 7,65 mm. – Darüber konnte er mit niemandem sprechen. Der Einzige war Bochow. Es waren für Höfel nur wenige Schritte bis zum Block 38, trotzdem aber ein langer Weg. In Höfels Brust lag es wie ein schwerer Stein. Hätte er anders handeln müssen? Ein kleiner Funke Leben war übergesprungen, ein Rest aus einem Lager des Todes. Musste er das Winzige nicht davor bewahren, ausgetreten zu werden?
Höfel blieb stehen und blickte auf die nass glänzenden Steine zu seinen Füßen. Auf der ganzen Welt konnte es nichts geben, was selbstverständlicher war.
Auf der ganzen Welt!
Nicht aber hier!
Daran dachte er jetzt.
Ahnungen von den Gefahren, die das Vorhandensein jenesgefährlichen Funkens auslösen konnte, der in einem heimlichen Winkel des Lagers glomm, durchhuschten Höfel schattenhaft, aber er wies sie von sich. Vielleicht konnte Bochow helfen?
Block 38 war eines der einstöckigen Steingebäude, die nach Jahren im Anschluss an die ersten Holzbaracken errichtet worden waren. Er umfasste, wie die übrigen Steinblocks, vier Aufenthaltsräume mit anschließendem Schlafsaal. Es war nichts Ungewöhnliches, dass der Kapo der Effektenkammer in einem der Blocks erschien, und die Häftlinge nahmen deshalb keine Notiz von Höfel, als dieser eintrat. Bochow saß am Tisch des Blockältesten und schrieb die Bestandsmeldung des Blocks für den kommenden Morgenappell aus. Höfel zwängte sich durch den dichtgefüllten Raum und trat zu Bochow ans Pult. »Kommst du mal mit raus?«
Wortlos stand Bochow auf, zog sich den Mantel über, und sie verließen den Block. Draußen sprachen sie nicht miteinander. Erst als sie auf den breiten, zum Revier führenden Weg gelangten, auf dem noch viele Häftlinge hin und her gingen, begann Höfel: »Ich muss mit dir sprechen.« – »Ist’s wichtig?« – »Ja.«
Sie redeten leise und unauffällig. »Da hat ein Pole Jankowski, Zacharias, ein kleines Kind mitgebracht …« – »Das nennst du wichtig?« – »Das Kind ist bei mir auf der Kammer.« – »Was, wieso?« – »Ich habe es bei mir versteckt.« Höfel konnte Bochows Gesicht im Dunkeln nicht erkennen. Ein eiliger Häftling, vom Revier kommend, den Kopf gegen den Nieselregen vorgeduckt, stieß sie im Vorbeigehen an. Bochow blieb stehen. »Mensch, bist du verrückt geworden?« Höfel hob die Hände. »Lass dir erklären, Herbert …« – »Ich will es gar nicht wissen.« – »Doch, du musst es wissen«, beharrte Höfel. Er kannte Bochow, der war immer hart und unerbittlich. Sie gingen weiter, und in Höfel schoss es plötzlich heiß auf. Völlig unmotiviert sagte er: »Ich habe zuHause selber einen Jungen, der ist jetzt 10 Jahre alt. Ich habe ihn noch nie gesehen.« – »Gefühlsduselei, du hast strengste Anweisungen, dich aus allen Sachen herauszuhalten. Hast du das vergessen?«
Höfel verteidigte sich. »Wenn das Kind denen da oben in die Fänge gerät, geht es hops. Ich kann es doch nicht ans Tor schleppen: da, das haben wir in einem Koffer gefunden.« Sie waren auf ihrem Gang fast bis zum Revier gelangt, drehten um und gingen den Weg wieder zurück. Höfel fühlte die Härte, die von Bochow ausging, mit tiefem Vorwurf fuhr er ihn an: »Mensch, Herbert, hast du denn kein Herz im Leib?« – »Wenn das keine Gefühlsduselei ist!« Unvorsichtig laut hatte Bochow gesprochen. Er riss sich darum selbst das Wort vom Mund und fuhr leiser fort: »Kein Herz im Leib? Hier geht es nicht nur um ein Kind, sondern um 50 000 Menschen!«
Höfel ging schweigend nebenher, er war
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