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Nackt unter Wölfen

Nackt unter Wölfen

Titel: Nackt unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Apitz
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für ein Kind? Was ist mit ihm?«
    Bochow wehrte die Frage ab. »Nichts, es geht um anderes.«
    »Das kann ich mir denken.« Krämer schnaufte. »Hör zu, Herbert. Ich frage sonst nicht viel, weil ich mich immer darauf verlasse, dass …«
    »Also frage nicht.«
    Krämer sah finster vor sich hin. »Manchmal machst du es mir verdammt schwer, Herbert.«
    Bochow legte ihm versöhnend die Hand auf die Schulter. »Es kann sich kein anderer der Sache annehmen als du. Höfel weiß schon Bescheid. Sag, du kommst in meinem Auftrag.« Krämer brummte mürrisch. Er war unzufrieden.
     
    Unruhig war Höfel durch die Reihen der Blocks gelaufen, ehe er jetzt nach seiner Behausung ging. Ein paar verspätete Häftlinge klapperten eilig ihren Blocks zu. In kurzen Abständen pfiff es. Der Lagerälteste machte seinen abendlichen Gang durch das Lager. Seine Pfeifsignale bedeuteten, dass sich kein Häftling mehr außerhalb der Blocks aufhalten durfte. Immer ferner und leiser klangen die Pfiffe. Die regennassen Dächer der Baracken glänzten matt. Unter Höfels Schritten knirschten und knackten die Schottersteine. Manchmal stolperte er, gab nicht acht auf seinen Gang vor Groll auf Bochow! Was machte der sich schon aus einemkleinen Kind? Fröstelnd betrat Höfel seinen Block. Der Aufenthaltsraum war leer, sie lagen schon alle in den Betten. Ein paar Stubendienste klapperten mit den Suppenkübeln. Am Tisch saß der Blockälteste. Im Raum hing noch der kalte Dunst der abendlichen Krautsuppe und mischte sich mit dem Ruch der Kleidungsstücke, die geordnet auf den Bänken lagen. Keiner beachtete Höfel, der sich auszog und seine Kleidung auf der freien Stelle seines Bankplatzes zurechtlegte.
    Aber hatte Bochow nicht eigentlich recht? – Was geht mich das fremde Kind an, dachte Höfel, ich belaste mich nur mit ihm.
    So unwirsch war der Gedanke, dass sich Höfel dessen schämte. Als er aber den bösen Gedanken verscheuchen wollte, schob sich die Erinnerung an seine Frau Dora dazwischen. Woher kam das so plötzlich? Hatte das Kind dort im Winkel die schmerzende Erinnerung ihm aus dem Verlies der Brust gezogen? Sie überschwemmte mit einem Male sein Inneres, und er staunte, dass es in einer ihm fremd gewordenen Welt eine Frau gab, die seine Frau war. Es begann in ihm zu irrlichtern. Er besaß einen Sohn, den er noch niemals gesehen, er besaß eine Wohnung, eine richtige Wohnung mit Stuben und Fenstern und Möbeln. Doch das alles fügte sich nicht zu einer Ordnung zusammen, sondern umwirrte ihn wie die Trümmer einer geborstenen Welt im lichtlosen Raum. Höfel hatte die Hände ums Gesicht gepresst und wusste es nicht; er starrte wie in einen nachtschwarzen Abgrund hinein. Alle vier Wochen schickte er einen Brief in das Dunkel hinaus: »Liebe Dora. Mir geht es gut, ich bin gesund, was macht der Junge?« Und alle vier Wochen kam aus dem Dunkel ein Brief zu ihm, und jedes Mal schrieb die Frau am Schluss: »… ich küsse Dich innig …«
    Aus welcher Welt kam das? Mein Gott, aus welcher, dachte Höfel. Sicher aus einer Welt, in der es auch kleine Kindergab, nur wurden sie nicht am Bein durch die Luft gewirbelt und mit dem Kopf gegen die Mauer geschlagen wie junge Katzen. – Höfel stierte vor sich hin. Die Gewalt der Erinnerung machte die Gedanken welk, dass sie ins Nichts zusammenfielen, und er fühlte nur noch überstark den warmen Druck seiner eigenen Hände am Gesicht. Plötzlich hatte er die mehr als seltsame Vorstellung zweier Hände aus dem Dunkel heraus, die sein Gesicht umspannten, und eine wesenlose Stimme raunte: »André … so ein armes kleines Kind …« Höfel schreckte auf. Bin ich verrückt?
    Er ließ die Hände sinken. Die Luftkühle strich über die nackt gewordenen Wangen. Höfel sah seinen zurückverwandelten Händen zu, die folgsam die gewohnten Handgriffe ausführten: die Hose zusammenlegend, die Jacke mit der Nummer nach außen, wie es Vorschrift war.
    Ja, Bochow hatte recht. Das Kind musste fort. Hier wurde es zu einer Gefahr für alle. Der Pole wird schon sehen, wie er es durchbringt. Höfel ging in den Schlafsaal hinüber. Der gewohnte Gestank brachte ihn vollends in die Wirklichkeit zurück. »… ich küsse Dich innig …« Höfel kroch auf den Strohsack und zog die kratzende Decke über sich.
    Im Schlafsaal mit den Reihen der dreifach übereinandergestaffelten Bettgestelle wollte lange keine Ruhe eintreten. Die Nachricht vom Rheinübergang der Amerikaner bei Remagen hatte die Gemüter aufgescheucht. Höfel hörte in das

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