Nackt unter Wölfen
überließen ihn schweigend seiner Erbärmlichkeit.
Krämer und Pröll standen am Fenster ihres Raumes und blickten zum Tor. Die untergehende Sonne tauchte das langgestreckte Gebäude in rotes Licht und warf lange Schatten.
Zwei Leichenträger, in farblosem Drillich, rannten vom Krematorium zum Tor. Die Bahre schaukelte zwischen ihnen. Der diensttuende Blockführer öffnete die schmiedeeiserne Tür, und sie huschten hindurch.
Krämer und Pröll warteten stumm. Nicht lange dauerte es, und die Leichenträger kamen wieder ins Lager herein. Die graue Wolldecke hing zu beiden Seiten der Bahre herab.
In Krämers Gesicht bewegte sich nichts. Als die Leichenträger zum Krematorium einschwenkten, zog er die Mütze vom Kopf und verkrampfte sie zwischen den Händen. Seine Augen nahmen Abschied.
Langsam gingen die Leichenträger mit ihrer Last über den leeren Appellplatz, und ihre langgezogenen Schatten geisterten vor ihnen her, als wiesen sie hüpfend die letzte kurze Strecke des Weges, die dem Toten auf dieser Erde noch übriggeblieben war …
Als sich die frühe Dunkelheit des Abends über das Lager senkte, vollzog sich, was am Mittag im Operationsraum des Reviers beschlossen worden war. Schnell und huschend spielte der Apparat. Die Verbindungsleute benachrichtigtenin den Blocks die Führer der Widerstandsgruppen. Unauffällig geschah es – ein paar Worte, die jeder hören konnte, doch zwischendurch wurden die Weisungen des ILK gegeben.
Alarmstufe zwei! Kein Angehöriger der Widerstandsgruppen durfte mehr den Block verlassen, alle mussten sich in Bereitschaft halten. Sie wussten, worum es ging. –
Blockälteste in den Pferdeställen des Kleinen Lagers waren vorbereitet worden. Unter ihren sich in der Enge der Überfüllung drängenden Insassen tauchten neue auf. Sie kamen vom Revier. Köhn und seine Sanitäter hatten sie mit Kopfverbänden unkenntlich gemacht. In ihren zerschlissenen Klamotten unterschieden sie sich in nichts von den Übrigen. Andere der 46 Todeskandidaten hatten sich auf eigene Faust Verstecke ausfindig gemacht. Pröll war bereits am Nachmittag im Kleinen Lager gewesen, hatte sich umgesehen. Jetzt verabschiedete er sich von Krämer. »Geh, Junge«, sagte dieser, »es dauert bestimmt nicht lange, dann holen wir euch heraus …«
Ein deutscher Blockschreiber und zwei polnische Stubendienste aus einem der Pferdeställe des Kleinen Lagers warteten auf Pröll. Auf einer freien Stelle im Gelände, abseits der Baracken, hatte Pröll unter dem aufgeworfenen Schotter einen Kanalschacht entdeckt. Ein aufgerissener Strohsack, von Exkrementenunrat verschmutzt, lag in der Nähe, irgendwann einmal aus einem der Ställe herausgeworfen und vergessen. Sofort hatte Pröll hier das geeignete Versteck erkannt. Der Blockschreiber wollte nichts davon wissen, doch Pröll hatte darauf bestanden, hier unterzutauchen, und nun warteten seine Helfer in der Dunkelheit auf ihn. Sie hatten den Deckel vom Schacht schon abgehoben, und als Pröll erschien, war sein Verschwinden das Werk weniger Minuten. Der Schacht, in den Pröll stieg, war eine senkrechte, eineinhalb Meter tiefe Öffnung über der Abortabflussleitung, die vom Lager zur Kläranlage führte. Pröll konnte sich nur mitgegrätschten Beinen auf die Kanten der Abflussrinne stellen, er musste den Kopf einziehen, damit der Deckel aufgelegt werden konnte. Hastig warfen die Polen Schottersteine darüber und legten den Strohsack auf, dann huschten die Helfer in ihren Pferdestall zurück. Nun war Pröll allein und sich selbst überlassen. Er hatte das Gefühl absoluter Sicherheit und probierte die bequemste Stellung aus. In jeder Tasche seines Mantels steckte ein Knust Brot.
Zwischen seinen Beinen gluckste das jauchige Abwasser, und wenn der Gestank nicht gewesen wäre, dann hätte es Pröll lieblich klingen können wie das Gezwitscher eines munteren Bächleins. In einem Anflug von Galgenhumor machte sich Pröll mit seinem wenig angenehmen Verlies vertraut. »Fürs Scheißen hast du es jedenfalls bequem«, sagte er zu sich und richtete sich auf längere Zeit ein.
Krämer hatte dafür gesorgt und auch mitgeholfen, einige der Bedrohten zu verbergen. Auf seine Veranlassung hin hatte Bogorski von Häftlingen des Badekommandos am Nachmittag im Kohlenkeller das Versteck vorbereiten lassen. Im Kohlenberg war ein Hohlraum ausgeschachtet worden, der einen schnell zusammengezimmerten Lattenkäfig aufnehmen konnte. Klug und geschickt hatten die Häftlinge mit einem alten Tonrohr
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