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Nackt unter Wölfen

Nackt unter Wölfen

Titel: Nackt unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Apitz
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wartete der versoffene Weisangk. Warum nahm Kluttig heute den Appell nicht ab? – Krämer hörte hinter sich da und dort die Stimme eines Blockältesten: »Block 16, stillgestanden! Mützen ab! Block 16 mit 353 Häftlingen zum Appell angetreten …«
    »Block 38, stillgestanden! Mützen ab! Block 38 mit 802 Häftlingen zum Appell angetreten. Einer fehlt.«
    Das war Bochows Stimme! Krämer hielt für Sekunden den Atem an. Was geschah jetzt hinter seinem Rücken? Ein unbändiger Drang war in ihm, sich umzudrehen, das Lauschen genügte nicht mehr.
    Bochow war gänzlich ohne Furcht, als er das Fehlen Runkis meldete. »Sein« Blockführer, für den er die Sprüchlein malte, blickte nur kurz von dem Blockbuch auf, in das er die Zahlen notierte, und fragte ohne Überraschung: »Wo ist er?« – »Ich weiß es nicht.« Mehr wurde darüber nicht gesprochen, und in Bochow schoss es plötzlich auf: die haben Instruktionen erhalten!
    Der Blockführer ging die Front entlang, äugte über die entblößten Köpfe und zählte die Zehnerreihen ab. Verstohlen folgten ihm die Augen der Häftlinge. Warum geschah nichts? – Lag etwa in dem Schweigen, mit dem die einzelnenBlockführer die Meldungen entgegennahmen, eine große, noch unbekannte Gefahr? – Alles blickte gespannt nach oben. Blockführer um Blockführer gab bei Reineboth seine Meldung ab. Der notierte, als ob nichts geschehen sei.
    Krämer konnte den Rapportführer gut beobachten. Jetzt zählte dieser die Meldungen zusammen, verglich sie mit dem Gesamtbestand, rechnete, zählte wieder, rechnete erneut, und ein feiner zynischer Zug um den Mund veränderte sein Gesicht. Nun war er mit der Rechnung zu Ende. Statt, wie üblich, zum Mikrophon zu gehen, trat er zu Weisangk. Was er mit diesem besprach, konnte Krämer nicht hören, aber er las es von Mienen und Gesten der beiden ab, dass sich das Gespräch um die 46 drehen musste. Weisangk redete gestikulierend, fahrig, nervös. Er gab Reineboth Anweisungen. Der zog die Schultern hoch und machte mit den Händen eine Bewegung, die ausdrücken mochte: Bitte, wie Sie wünschen. Darauf trat er zum Mikrophon. »Fertig! Stillgestanden! Mützen ab!«
    Der Schlag klatschte dumpf wie immer.
    Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden gesondert gezählt und verblieben während des Appells in ihrem mit einem Stacheldraht umzogenen Block. Sie konnten, was durch das Mikrophon gesprochen wurde, im Lautsprecher des Blocks hören. Eine große Zahl von diesen 800 Kriegsgefangenen gehörte den Widerstandsgruppen an. Bogorski war ihr Führer. Auch unter diesen Menschen galt das Gesetz der Konspiration, und nur die besten und zuverlässigsten waren in die Gruppen aufgenommen worden. Die Gefangenen saßen an den Tischen und warteten auf das Ende des Appells. Van Dalen, Köhn und die Pfleger, unter ihnen die des Sanitrupps, hörten im Aufenthaltsraum des Reviers gleichfalls die Durchsagen. Sie sahen sich bedeutungsvoll an, als sie Reineboths Kommandos vernahmen wie an jedem Tag. Was ist?
    Im Kleinen Lager, das ebenfalls gesondert gezählt wurde,hatten Manipulationen stattfinden müssen, um den heimlichen Zuwachs in der Gesamtzahl des Bestands zu verbergen. Es wurden einige Tote, die es ja täglich gab, unterschlagen, und an ihrer Stelle ließen sich die Untergetauchten mitzählen. Ihre großartig zurechtgemachte Mimikry verwischte sie in der grauen Elendsmasse.
    Es waren bange und gefahrvolle Minuten, die sie alle zusammen mit dem ganzen Lager durchkämpfen mussten. Krämer, Bochow, Bogorski, Pribula, Kodiczek, Riomand und van Dalen. Sie warteten auf den Sturm … Gab es nicht jedes Mal Aufruhr, wenn auch nur einer fehlte beim Appell, der sich aus Angst vor dem kommenden Tag irgendwo verkrochen hatte? Und heute fehlten 46! Und »die da oben« sollten nicht einmal Notiz davon nehmen?
    Reineboth gab seinen Rapport wie immer an den Lagerführer weiter, wie immer ging er dann zum Mikrophon zurück: »Mützen auf! – Korrigieren! – Aus!«
    Reineboth trat vom Mikrophon zurück, und Weisangk nahm dessen Stelle ein. Er hielt sich an der Stange des Stativs fest, und sein Bayrisch röhrte durch den Lautsprecher. »Mal herhören z-amt! Heit bleibt mir alles im Lager. Heit rückt koan Arbeitskommando aus! Es bleibt mir alles in den Blocks, dass mir koana drauß’n umanandloaft, heit.« Er trat von einem Bein auf das andere, das Sprechen machte ihm Mühe, er schien noch etwas sagen zu wollen, überließ aber dann dem gewandteren Reineboth die weitere Durchsage.

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