Nackt unter Wölfen
Für die Häftlinge des Lagerschutzes war der Befehl ein willkommener Abbruch ihrer vorgetäuschten Suchaktion. Sie rannten aus den Blocks, in denen sie sich gerade befanden, sammelten sich vor ihrem Quartier und eilten, vom Kapo angeführt, den Appellplatz hinauf, sich unterwegs mit den Blockältesten vereinend.
Reineboth gab Krämer nicht Zeit, Aufstellung nehmen zu lassen und seine übliche Meldung abzugeben. »Sofort alles im Lager unterbringen und aufteilen!«
Kluttig ließ die Blockführer durch den Lagerschutz ablösen, der nun seinerseits eine Kette um den Menschenhaufen bildete. Krämer hatte sogleich die Situation erkannt und wusste, dass das herrische Wesen der beiden nur Hilflosigkeit war, den Andrang zu bewältigen. Es galt ihm, die richtige Taktik anzuwenden, um die Lage zu beherrschen. Schon warendie abgelösten Blockführer dabei, wie beißwütige Hunde unter die Erschöpften zu fahren. Schnell gab Krämer seine Befehle. »Blockälteste in Reihenfolge antreten!« Sofort spritzten die Blockältesten in zwei Reihen auseinander.
»Stillgestanden!«
Ohne Reineboth und Kluttig zu beachten, ging Krämer auf den Menschenhaufen zu.
»Kameraden«, rief er, »ihr werdet jetzt zu je 100 Mann auf die einzelnen Blocks aufgeteilt. Die Kameraden vom Lagerschutz übernehmen die Formierung der Gruppen und bringen sie zu den Blocks. Disziplin und Ordnung! Dann geht es schnell!«
Der Kapo des Lagerschutzes übernahm das Kommando über seine Leute. {Die sorgfältige militärische Erziehung wirkte sich aus.} Schnell teilte er sie in Gruppen von je zehn Mann auf, die sich wiederum je zehn Mann aus der Masse herausgriffen und Züge von je hundert Mann formierten. Das ging nicht glatt, denn die müden Menschen ließen sich nicht wie ein Regiment Soldaten kommandieren. Doch der Instinkt des Gefangenen war die dirigierende Kraft, die es auch verhinderte, dass die Blockführer die Aufteilung stören konnten. Sie mussten es den Häftlingen überlassen und beschränkten sich darauf, hier und da besonders Schwache mit gezielten Fußtritten hochzutreiben. Indessen rief Krämer die einzelnen Blockältesten auf, und es dauerte nicht lange, dass sich die ersten Gruppen den Appellplatz hinunterbewegten. In einer knappen Stunde war alles vorüber. Die Blockführer verzogen sich. Zurück blieben Reineboth und Kluttig. Sie hatten dabeigestanden und zugesehen. Der eine hämisch und auf der Knopfleiste trommelnd, der andere verbissen. Jetzt zog Krämer die Mütze und meldete: »Befehl ausgeführt. Zugänge auf die Blocks verteilt.«
Kluttig schob den Unterkiefer vor.
»Sie fühlen sich wohl schon als Kommandeur, was?«
Wie so oft, wenn er vor Kluttig stand, musste Krämer den Stoß des Hasses abfangen, um den Gefährlichen nicht noch mehr zu reizen. Schweigend durfte er die provokatorische Frage nicht hinnehmen, das wäre ihrer Bestätigung gleichgekommen.
»Nein, Hauptsturmführer, ich habe nur Ihren Befehl ausgeführt.«
»Befehl ausgeführt!«, schrie Kluttig los. »Wenn bis Mittag die 46 nicht hier sind, dann lege ich Sie eigenhändig um!«
Der unmotivierte Gedankensprung zu den 46 warnte Krämer. Insgeheim hatte er gehofft, dass die Suche nach den 46 ebenso untergehen möge wie die Suche nach dem Kind. Auf diese Drohung musste er reagieren. Welche richtige Antwort aber ließ sich zwischen zwei Atemzügen finden?
Da enthob ihn Reineboth ungewollt der Entscheidung.
»Der Lagerschutz sucht weiter, verstanden?«
»Jawohl«, antwortete Krämer und atmete erleichtert auf.
»Wegtreten!«
Die Blocks gerieten in Bewegung, als die Hundertmanngruppen in die Tagesräume quollen. So, wie sie waren, fielen viele der Ermatteten auf die bereitwillig frei gemachten Bänke, oder sie streckten sich erlöst auf den Fußboden nieder, ohne Sinn und Interesse für die Umgebung. Auf ihren gehetzten Gesichtern zeichnete sich die Erlösung ab, nach den Strapazen endlich ein Dach über dem Kopf zu haben. Bochow, an Runkis statt, hatte ebenfalls hundert Mann auf den Block gebracht. Er verteilte sie auf die vier Flügel und wehrte die neugierigen Insassen ab. »Lasst sie zur Ruhe kommen. Gebt ihnen zu trinken. Wer ein Stück Brot entbehren kann, helfe.« Er selbst holte seine Ration aus dem Spind und teilte sie auf. Andere folgten seinem Beispiel. Die Stubendienste brachten Kaffee. Decken wurden herbeigeschleppt, Notlager hergerichtet. Viele Insassen machten im Schlafraum ihren Bettplatzfür die Kranken frei. Nicht mehr wurde danach gefragt,
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