Nackt unter Wölfen
Stätte
wilder Stürme raues Bette
In den öden Fensterhöhlen
wohnt das Grauen
und des Himmels Wolken schauen
hoch hinein …
Einige lachten. Das Lachen war trockenes Gebell …
Sonst eilte der Lagerschutz im Laufschritt zum Tor. Diesmal marschierte er im geschlossenen Zug den Appellplatz hinauf. Das dauerte um Minuten länger, und um jede Minute Verzögerung wurde gerungen. Mit fieberhafter Aufmerksamkeit verfolgten die Häftlinge an den Fenstern der vorderen Blockreihen die Vorgänge oben am Tor, als die hundert Mann des Lagerschutzes angetreten waren. Sie sahen Reineboth durchs Tor kommen, sahen den Kapo des Lagerschutzes Meldung erstatten, sahen Reineboth Befehle erteilen, den Lagerschutz Aufstellung nehmen und Reineboth wieder durchs Tor verschwinden. Wenige Minuten vergingen. Da riss die Torwache die Flügel der schmiedeeisernen Tür auf, und ein Rudel Blockführer stürzte ins Lager, stürmte den Appellplatz hinunter, Knüppel in der Hand. Die Häftlinge an den Fenstern gerieten in Bewegung: »Sie holen die Juden!«
Das Rudel fuhr wie ein jäher Windstoß unter die jüdischen Häftlinge, die schreiend in die Blocks flüchteten. Aber sie wurden in wildem Knüppeltanz wieder hinausgetrieben. Mitten im Höllentumult befand sich Krämer! Er entriss die Bedrohtesten den Prügeln der rasenden Schläger, ohne Rücksicht darauf, dass auch auf seinen Schädel die Knüppel niedersausten. Einige von den Blockführern riegelten die Eingänge der Blocks ab, die anderen jagten den schreienden Menschenknäuel zum Appellplatz hinauf. Was unterwegs niederstürzte, wurde im Gedränge zertrampelt oder mit Stiefeltritten wieder hochgetrieben. Krämer war zurückgeblieben, nachdem die wilde Jagd davongerast war. Vor den leeren Blocks sah es wüst aus. Kleidungsstücke, Mützen, Decken, Trinkbecher, Essschüsseln lagen herum, in denBlocks waren Tische und Bänke umgestürzt, die Spinde aufgerissen, in den Schlafsälen die Strohsäcke von den Gestellen gezerrt und zerfetzt. Am Pult des Blockältesten hing die Karte des Kriegsschauplatzes in Fetzen herunter. Schwer atmend stand Krämer in dem verödeten Block, eine ganze Weile, um die keuchende Brust zur Ruhe zu bringen. Wie er so stand, glich er einem Tier, das die Todeswunde empfangen hat und darauf wartet, niederzusinken. {Nur allmählich konnte sich Krämer an die plötzliche Stille gewöhnen.} Er schob die Mütze in den Nacken und wischte sich mit dem Unterarm über die nasse Stirn, der Arm fiel ihm schlaff herab. Er sah um sich, dann verließ er den Block. Hier gab es nichts mehr zu tun …
Um den nach Tausenden zählenden Schwarm der Zusammengetriebenen hatte der Lagerschutz am Tor eine Absperrkette bilden müssen. Die Blockführer waren verschwunden. Um das Torgebäude war alles verödet. Eine Stunde und zwei stand die Masse. Es wurde finster. Der Transport konnte nicht abgehen. Ununterbrochen telefonierte Schwahl mit dem Weimarer Bahnhof. Die bereitgestellten Güterzüge hatten keine Ausfahrt, die Gleise waren verstopft. Eine weitere Stunde verging, und die Menschen standen noch immer am Tor. Über ihren Häuptern patrouillierten die Wachposten des Hauptturmes auf dem Laufgang, blickten ab und zu neugierig über das Geländer auf den Menschenhaufen. Schweigend umstanden die Lagerschutzler die zusammengedrängte Masse; sie hatten sich an den Händen gefasst. Voller Angst harrten die jüdischen Häftlinge. Hier unter den Augen der SS wagte keiner von ihnen, mit dem Lagerschutz zu sprechen. Aber ihre Augen flehten: Ihr seid doch wie wir, warum haltet ihr uns fest? Einer unter den Lagerschutzlern dachte, als er die starren Augen eines jüdischen Häftlings auf sich gerichtet sah: Wenn der jetzt davonläuft – ich halte ihn nicht … Gab es eine geheimnisvolle Sprache der Gedanken? Die beidenHäftlinge sahen sich an mit unbeweglichem Blick. Der jüdische Häftling stand steif, als hielte er den Atem an. Seine Starre war die Konzentration auf einen Entschluss. Plötzlich duckte er sich. Der Lagerschutzler spürte, wie sein Nebenmann mit dem Arm eine Bewegung machte, aber schon schlüpfte der jüdische Häftling unter der Armkette durch und rannte fort. Die kühne Flucht löste eine Kettenreaktion aus. Vier, fünf, zehn schlüpften durch und flohen den Appellplatz hinunter. Der Haufen begann zu wogen und zu drängen. Die Kette der Lagerschutzler stemmte sich gegen ihn, die Flucht unterbindend. Aber der geheimnisvolle Stromkreis war bereits geschlossen. Wohl hielten die
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