Nackt unter Wölfen
Nachmittag über den verödeten Appellplatz schallte und in die Blocks hineinstieß, dennoch einen lähmenden Schock aus.
»Alle Juden sofort auf dem Appellplatz antreten!«
Reineboths Stimme brachte in den Blocks das Rumoren und Gesumm zum Schweigen, aber nur für wenige stockende Atemzüge, dann brach der Lärm noch stärker wieder auf. »Es geht los, es geht los! Die Juden kommen zuerst dran!«
Die Würfel waren gefallen!
Die Evakuierung begann!
Zwar waren die Juden die Ersten, doch jeder Einzelne glaubte mit seinem Block als Nächster dranzukommen. Viele hatten sich schon reisefertig gemacht, eine Schlafdecke zusammengerollt und die wenigen Habseligkeiten verpackt.
Manche hatten sich abenteuerliche Pläne ausgeheckt, um der Evakuierung zu entgehen. Im freien Gelände des Lagers wollten sie sich ein Loch in die Erde buddeln, wollten unter die Baracken kriechen … Aber das waren Spintisierereien. Der unerbittliche Befehl faszinierte alle und hielt sie zusammen in Hoffnung und Fatalismus.
Unter den 6000 jüdischen Häftlingen des Lagers verursachte der Befehl einen Aufruhr der Angst und Verzweiflung. Zuerst war ein Schrei des Entsetzens in ihnen aufgebrochen. Sie wollten die schützenden Blocks nicht verlassen. Sie schrien und weinten, wussten nicht, was sie tun sollten. Wie ein wütender Wolf hatte der furchtbare Befehl sie angesprungen, hatte sich in sie verbissen, und sie konnten ihn nicht mehr abschütteln. Ungeachtet von Weisangks Befehl, die Blocks nicht zu verlassen, stürzten viele der jüdischen Häftlinge fort, kopflos und in höchster Not. Sie rannten in andere Blocks hinein, in die Seuchenbaracke des Kleinen Lagers, ins Häftlingsrevier. »Helft uns! Versteckt uns!«
»Wie euch verstecken? Wir kommen doch selber dran.«
Trotzdem, die Blocks nahmen sie auf. Man riss ihnen die jüdischen Markierungen von den Kleidern, gab ihnen andere dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steckten die Hilfesuchenden als »Kranke« in die Betten, gab ihnen ebenfalls andere Markierungen und Nummern. Manche der Gehetzten versteckten sich auf eigene Faust und krochen in den Leichenkeller des Reviers. Andere wieder stürzten in die Pferdeställe des Kleinen Lagers, in der Masse untertauchend. Und doch war diese Flucht die sinnloseste, denn gerade hiersteckten viele jüdische Angehörige fremder Nationen. Aber wer überlegte, wer dachte klar, wenn er vom Wolf gehetzt wurde …
Was in den Blocks der jüdischen Häftlinge zurückblieb, unterlag schließlich der Lähmung des mörderischen Befehls. Verstört sahen sie dem Kommenden entgegen. Die Blockältesten, selbst jüdische Häftlinge, hatten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antreten zu lassen. Dort wartete der Tod! Konnte man ihn nicht auch hier erwarten?
Bochow kämpfte mit sich. Sollte er es wagen, in das menschenleere Lager hinauszulaufen? – Wer jedoch, außer ihm von den Genossen des ILK, konnte jetzt Krämer beistehen? Also lief Bochow zur Schreibstube.
»Na? Und nun?«, empfing ihn Krämer, als hätte er ihn erwartet, und nicht etwa Ratlosigkeit lag in der Frage.
»Den Abmarsch hinauszögern, so lange wir es können!«
»Für wie lange wird es uns gelingen?«
»Ganz gleich! Und wenn es nur Stunden sind, Walter, wenn es nur Stunden sind!«
Im Lautsprecher knackte es. Reineboths Stimme ertönte, nicht mehr lässig und zynisch: »Der Lagerälteste zum Rapportführer!«
Es war stets wie ein neues Erschrecken, wenn eine Durchsage kam. Krämer stampfte gequält auf und schleuderte den Arm gegen den feindlichen Lautsprecher. »Da!«
Krämer stülpte die Mütze auf und zerrte sich den Mantel über. Bochow sah den hastigen Bewegungen zu.
»Walter!«, rief er Krämer an.
»Na was?«
Alles, was sie sich hätten sagen mögen, war in die Kargheit der kurzen Ausrufe hineingepresst. Sie empfanden es. Krämer winkte ab: nicht darüber reden.
»Geh in deinen Block zurück, ich mach das schon …«
Reineboth empfing Krämer ungeduldig: »Wo bleiben die Juden? Kümmern Sie sich gefälligst, dass die Kerle aufmarschieren! Oder glauben Sie, dass Sie es nicht mehr nötig haben?«
»Ich war in den Blocks und habe mich um die Durchführung Ihres Befehls bemüht«, log Krämer.
»Bemüht, bemüht!«, schrie Reineboth. »Das Gesindel kommt zum Arbeitseinsatz! In einer Stunde steht es hier angetreten, sonst gnade Ihnen Gott!«
Es war ein bitterer Gang zu den Blocks der jüdischen Häftlinge. Krämer ging wie mit Blei an den Sohlen. In seiner Brust schrie es:
Weitere Kostenlose Bücher