Nackt unter Wölfen
{»Njet.«} Neben dem Fehler steht das Richtige, wie der Schatten neben dem Licht. Und so, wie Bochow das Falsche getan habe, so hätte er ebenso gut das Richtige tun können. Charascho!
Fort mit dem Kind aus dem Lager! Das war das Richtige, und das habe er von Höfel verlangt, beharrte Bochow.
»Nun gutt«, gab Bogorski zu, aber warum habe es Höfel nicht getan? Wütend fuhr Bochow auf: »Weil er …«, doch plötzlich stockte der Aufgebrachte vor Bogorskis Blick. {Vielleicht war er über Höfels Herzensnot wirklich zu brutal hinweggegangen?}
Kopf allein – Herz allein …
Vielleicht hätte er sich selber darum kümmern müssen, dass das Kind tatsächlich aus dem Lager geschafft wurde … Hätte er Höfel bis zur letzten Minute hart kontrollieren sollen? Vielleicht hatte er Höfel nur darum sich selbst überlassen, weil in ihm, dem so verstandeskühlen Bochow, der gleiche menschliche Widerstand wirksam gewesen war wie in Krämer, der beide Augen zugedrückt hatte, nachdem der Auftrag gewissenhaft erfüllt worden war. Von allen alleingelassen, hatte Höfel die ganze Last auf seine Schultern nehmen müssen. {Schuld?} Wer hatte Schuld? {Keiner? Alle? Fehler?} Wer hatte den Fehler gemacht? Keiner! Alle! … Bochow sah in die Augen seines Freundes …
Menschenaugen! In deren Licht wie unter dem Spiegel des unergründlichen Meeres all das Geheimnisvolle des Wissens und Nichtwissens verborgen lag, alle Fehler und Irrungen des Herzens, alles Verstehen und Begreifen und alle Liebe.
Ein tiefes Gefühl spürte Bochow in seiner Brust. Er dachte: Du bist ein Mensch, beweise es …
Dachte er es von sich? Von Höfel? Oder war der Gedanke so weltengroß, dass er alles umfasste, was diesen Namen trug?
Du bist ein Mensch, beweise es! –
Bochow spürte, dass es jenseits des Verstandes eine unergründbare Tiefe gab, in der alle Worte und Gedanken ohne Echo waren und aus der keine Antwort kam. Vielleicht hatte Höfel in diese Tiefe hinabgesehen und das Selbstverständliche getan ohne Frage und Antwort.
{Schuld? Fehler?}
Ein Mensch, der Anspruch erhebt, diesen Namen zu tragen, muss sich in all seinem Tun stets für die höhere Pflicht entscheiden.
In Bochows Brust wirbelte es. Er mochte nicht weich werden.
»Also, was machen wir?«, fragte er darum und verbarg hinter der Sachlichkeit seine Scham.
Bogorski hob wieder die Schultern. Was konnten sie tun? – Alle militärischen Übungen mussten sofort unterbleiben. Kein Waffenunterricht durfte mehr stattfinden, keine Zusammenkunft der Gruppen. Das weitgespannte Netz des Apparates musste tief auf den Grund der Verborgenheit versenkt werden. Das war alles, was getan werden konnte. Es galt zu warten, abzuwarten.
Die Einlieferung in den Bunker war vor sich gegangen, ohne dass den beiden etwas geschehen war. Keine der üblichen Misshandlungen hatte stattgefunden. Mandrak, der Bunkerscharführer, der eben dabei war, sein Frühstück zu verzehren – es roch in seinem Aufenthaltsraum lieblich nach Bratkartoffeln –, war kauend auf den Gang getreten und hatte Höfel und Kropinski auf einen Wink Kluttigs gemeinsam in eine der Zellen gesperrt. Ein weiterer Wink des Lagerführers bedeutete ihm, mit in das Zimmer Reineboths zu kommen.Mandrak tat es ohne Eile. Er ließ die beiden vorangehen und zog sich in seinem Raum erst die Uniformjacke an. Gelassen trat er dann ins Zimmer des Rapportführers und knöpfte sich die Jacke zu. Er blieb stehen, obwohl Kluttig und Reineboth sich gesetzt hatten. Kluttig zog nervös an der Zigarette, Reineboth lag lässig im Stuhl zurückgelehnt und hatte den Daumen hinter der Knopfleiste. Mandrak kaute noch am Rest des Frühstücks.
»Hören Sie zu, Kamerad«, begann Kluttig, »das mit den beiden ist ein besonderer Fall, wir bearbeiten ihn gemeinsam.«
»Vernehmung bis zur Aussage«, warf Reineboth ein und zog hämisch einen Mundwinkel nach oben. Kluttig hob beschwörend die Hand. »Um Gottes willen, dass Sie mir keinen von den beiden kaltmachen, wir brauchen sie.«
Er setzte Mandrak die Zusammenhänge auseinander und wies ihn darauf hin, dass sie mit Höfel den Schlüsselmann zur Aufdeckung der illegalen Organisation in der Hand hätten. Mandrak hörte wortlos zu, er fuhr nur einmal mit der Zunge über die Lippen. In seinem Gesicht, dessen erdfahle Haut von zahlreichen Pockennarben übersät war, zeigte sich keine Anteilnahme. Auch der stumpfe Blick seiner dunklen, lichtlosen Augen verriet nichts. So, wie er vor dem Lagerführer stand, schien er
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