Nackt unter Wölfen
stieg an ihm vorbei. Pippig musste seine Mütze vor ihm ziehen. Er tat es gewohnheitsmäßig. Es war verboten, einen Angehörigen der SS dabei anzusehen. Auch der Uniformierte würdigte den Häftling keines Blickes. Dreck war für ihn nicht vorhanden. – In grimmiger Lust riss sich Pippig die Mütze vom Kopf, es war wie eine stumme Herausforderung. Pippst du oder pipp ich? Der kleine Schriftsetzer aus Dresden mit den ein wenig krummen Beinen hatte noch nie eine so innige Genugtuung empfunden wie in diesem Augenblick. Ich pippe, verlass dich darauf, ich pippe.
Der Blockführer ging an ihm vorüber. Pippig nestelte sich die Mütze wieder auf. Na klar, ich pippe … Das Herz hüpfte. Plötzlich aber durchfuhr Pippig ein heißer Schreck! In seiner Vorstellung sah er den Neuen in den Kleidersäcken herumstöbern.
{Menschenskind!}
Pippig rannte los. Außer Atem betrat er das Schreibbüro. Die Häftlinge empfingen ihn ungeduldig.
»Wo warst du? Seit einer halben Stunde ist der Neue bei Zweiling. Was haben die miteinander?«
Rose knurrte: »Nächstens sperren sie uns alle zusammen in den Bunker. Ihr wollt die Finger nicht von solchen Geschichten lassen.«
Pippig fauchte ihn an. »Für die Geschichte bin ich verantwortlich, ich allein, verstehst du? Lass die Kumpel damit aus dem Spiel.«
Rose trumpfte auf: »Deinetwegen gehen wir alle noch über den Rost.«
Pippig geriet in Zorn: »Meinetwegen kannst du lieber heute als morgen nach Hause gehen in deinen Schrebergarten.«
Die Häftlinge schlichteten den aufkommenden Streit.
Pippig verließ ärgerlich das Büro. Er warf einen schnellen Blick in Zweilings Zimmer. Der Neue stand in strammer Haltung vor dem Schreibtisch.
Der Kleiderraum war leer. Unauffällig ging Pippig durch die langen Reihen der Kleidersäcke. Hier in der Mitte musste es sein. Pippig suchte die Reihen ab. Die Säcke hingen in zwei Etagen, deren obere nur mit der Leiter erreichbar war. In der siebenten Reihe und in gerader Richtung vom mittleren Fenster aus, so hatte es Krämer ihm beschrieben. Da oben? Pippig erkannte die Nummern, die übersichtlich auf die Säcke gepinselt waren. Auf einer Leiter stieg er hinauf, befühlte einen der Säcke – nichts. Der Sack schien das Üblichezu enthalten, Anzug, Mantel, Wäsche, Schuhe … Alle drei Säcke tastete Pippig ab. Nichts.
Doch fiel ihm auf, dass jeder Sack langschäftige Stiefel enthielt. Mit wiegender Hand prüfend, erschien ihm jeweils einer der Stiefel schwerer. Pippig stellte die Leiter an ihren Platz zurück und atmete tief. Im Kleiderraum roch es nach Trockenheit und Naphthalin. –
Der Arbeitsdienstführer hatte Wurach auf Betreiben Zweilings dem Kommando zugeteilt. Zweiling hatte sich, nach einem Ausweg suchend, das Hirn zergrübelt. In welches Dilemma war er geraten? Nun war es so weit mit ihm gekommen, dass SS und Häftlinge ihn im gleichen Verdacht hatten. Vor Reineboth musste er sich reinwaschen, ganz gleich, wie. Selbst wenn er darum hundert Häftlinge hätte hochgehen lassen müssen, das wäre ihm völlig gleichgültig gewesen. Aber konnte er aufs Geratewohl irgendwelche Namen angeben? Reineboth würde ihn der Irreführung bezichtigen und in ihm erst recht den Verräter sehen. Hortense, ohne dass sie es gewollt, hatte ihm schließlich zu einem brauchbaren Gedanken verholfen. Zornig hatte sie auf Zweiling eingebelfert: »Nun sitzte zwischen zwei Stühlen! Nein, so ein Mann! Und der will ein SS-Mann sein? Sieh zu, wie du aus diesem Schlamassel herauskommst. Hast ja genug Kroppzeug im Lager, das dir zu den richtigen Namen verhelfen kann.« Da hatte sich Zweiling des Wurach entsonnen. Bei seiner Einlieferung war »oben« über ihn gesprochen worden.
Wurach war nach Buchenwald abgeschoben worden, um ihn, seiner Zinkerei wegen, dem Zugriff des Sachsenhausener Lagers zu entziehen. Der Arbeitsdienstführer hatte gegrient. »Warum ausgerechnet den?«
»Du weißt doch, was bei mir passiert ist«, hatte Zweiling entgegnet. Alles andere war Formsache gewesen. Nun stand Wurach vor Zweiling. Der musterte den Häftling.
Eine gedrungene Gestalt mit zu großem Kopf; in dem breiten Gesicht saß die viel zu kleine Nase wie ein Knopf – ein Schlägertyp!
»Soldat gewesen?«
»Jawoll, Hauptscharführer.«
»Und was haben Sie ausgefressen?« Zweiling schob die Zunge auf die Unterlippe. Wurach war es sichtlich unangenehm, »daran« erinnert zu werden, er versuchte sich mit der Antwort vorbeizudrücken.
»Ich habe eben mal eine Dummheit
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