Nackt
einen Snack zu holen oder sie in irgendeiner Weise zur Kenntnis zu nehmen. Das war Aufgabe unserer Mutter, damit hatten wir nichts zu tun. Hin und wieder verließ sie den Vorgarten und die Nachbarn riefen an: «Wusstet ihr, dass eure Großmutter bei uns ist und Sachen vom Vordergartenrasen pflückt?»
Wir gaben unserer Mutter den Hörer. «Das ist wahrscheinlich nur Löwenzahn», seufzte sie dann und trocknete sich die Hände am Rock ab. «Keine Sorge, wir werden Ihnen nichts für die Gartenarbeit berechnen.»
«Man sollte meinen, sie kriegt bei uns nichts zu essen», beklagte sich meine Mutter, wenn mein Vater von der Arbeit kam. «Jetzt ist sie wieder unterwegs und sammelt Nüsse und frisst den Shirks’ die Sonnenblumenkerne aus dem Vogelhäuschen. Wie peinlich.»
Die Ya Ya wanderte los und kam mit einer Schürze voll Grünzeug zurück, welches sie zu einer Paste verkochte. «Vielen Dank», sagten wir und schirmten unsere Teller angesichts des sich nähernden Kessels ab. «Ist bestimmt ganz köstlich, aber ich spar mir noch etwas Appetit für die Boviste auf, die du bei den Steigerwalds unter der Hundehütte gefunden hast.»
Je länger die Ya Ya bei uns lebte, desto weiter entfernte sich unsere Mutter. Wir Kinder hatten sie als große Schönheit angebetet, aber sechs von uns plus eine Schwiegermutter hatten begonnen, ihren Tribut zu fordern. Dem Gläschen Wein zum Abendessen ließ sie nun eine Serie von Cocktails vorausgehen und folgen, wodurch sich ihre Wut noch verfestigte. Anstatt sich zu uns an den Tisch zu gesellen, aß sie lieber in der Frühstücksecke, auf einen Hocker gekauert, trug eine Sonnenbrille und drückte ihre Zigaretten auf dem Tellerrand aus. Bei der Ya Ya war Diabetes diagnostiziert worden, und meiner Mutter fiel die undankbare Aufgabe zu, ihr eine Spezialdiät zuzubereiten und sie zu ihren zahlreichen Arztterminen in der Stadt herumzufahren. Meine Mutter musste die Insulininjektionen an Apfelsinen üben und die Pillen austeilen. Sie musste die Erdnussbutter verstecken und die Bonbons beschlagnahmen, die in den Kommodenschubladen versteckt waren –, den Kommodenschubladen einer Frau, die sich immer noch weigerte, sie mit Namen anzureden. Abends kam mein Vater nach Hause und hörte Beschwerden, in zwei schroffen Sprachen vorgetragen. Meine Mutter bot an, das Baby zu verkaufen, eine Teilzeitarbeit bei der Tabakernte anzunehmen – alles, damit das Geld für ein Altersheim reichte –, aber selbst die Katze verstand, dass mein Vater seine Mutter nicht in eine Anstalt geben konnte.
Es war gegen seine Religion. Sowas taten Griechen nicht. Sie waren zu geizig; das ist es, was ihre Familien schon immer zusammenhielt. Die gesamte Anmutung des Altersheims war etwas, was sich Leute wie meine Mutter ausgedacht hatten: amerikanische Frauen mit Sonnenbrille, ständig auf der Suche nach ihrer Bräunungslotion oder ihrem Feuerzeug. Er konnte seine Mutter nicht vor die Tür setzen, aber pflegen konnte er sie auch nicht. Der Konflikt spaltete die Familie in zwei deutlich geschiedene Lager. Meine Mutter und meine Schwestern kratzten sich in der einen Ecke Brotteig von den Absätzen, während mein Vater, mein Bruder und ich in der anderen Ecke mit Kleingeld klimperten. Die Kinder bildeten ein Komitee und traten in der Einfahrt zusammen, um über die bevorstehende Scheidung unserer Eltern zu debattieren. Kundschafter, die vor dem Elternschlafzimmer postiert waren, berichteten, meine Mutter habe etwas geworfen, was geklungen habe wie ein Aschenbecher. Ein Spähtrupp wurde ausgeschickt und kehrte mit einem lädierten Radiowecker und dem Immobilienteil der Zeitung zurück, an den Rändern mit den für Mutter charakteristischen Sternchen und Häkchen markiert. Wie viele Schlafzimmer gab es in der Wohnung? Wen nahm sie mit, wenn sie ging? Wenn wir bei Vater und Ya Ya blieben, wäre unser ungestörtes Privatleben gewährleistet –, aber was brachte das, wenn Mutters Aufmerksamkeit alles war, wofür wir lebten?
«Sag deiner Kuh, sie soll ihre Nahrungsaufnahme etwas gedämpfter gestalten», rief meine Mutter von ihrem Hocker in der Frühstücksecke. «Ihr Wiederkäuen ist ja bis an die Staatsgrenze zu hören.»
«Ach, Sharon», seufzte mein Vater.
«Ach, Sharon kannst du an ihrem Fettarsch lecken», rief meine Mutter, schleuderte ihren Teller auf die Frühstückstheke, von welcher er auf den Fußboden trudelte. Wenig später hatte sie ihre Formulierung überdacht und fügte hinzu: «Fett ist er, der Arsch, aber
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