Nackt
unsichtbar. Außerhalb des Wohnheims sprachen die einzigen Menschen, die mit uns sprachen, als wären wir schwerhörig. Sie knieten sich neben den Rollstuhl und brüllten: «PATER TONY HÄLT AM SONNTAG EINE GITARRENMESSE AB. HABT IHR LUST ZU KOMMEN?»
Peg winkte den Sprecher näher zu sich heran und flüsterte: «Ich sammle aber doch die Zähne kleiner lebendiger Kätzchen und bastle Halsketten für Satan daraus.»
«DAS IST MIR DOCH KLAR», hieß es dann. «DAS MACHEN WIR DOCH ALLE. DADURCH ZEICHNET SICH UNSERE GLAUBENSGEMEINSCHAFT JA GERADE AUS.»
Für Peg war die Unsichtbarkeit eine alte, ermüdende Geschichte. Für mich eröffneten sich dadurch ganz neue, bis dahin verborgene Perspektiven. So begann unsere Verbrecherlaufbahn.
Wir fingen in Lebensmittelläden an. Peg hatte hinten auf ihrem Rollstuhl einen Sack, den ich mit dicken Steaks und Hummerschwänzen füllte. Man brauchte sich nicht hinter Dosenpyramiden herumzudrücken, um sich vor dem Geschäftsführer zu verstecken; wir stahlen offen, unverblümt. Peg legte sich einen Segeltuchsack auf den Schoß und stopfte ihn mit allem voll, was sie in die Finger kriegen konnte. Oliven in Büchsen, Teriyaki-Sauce, Plastiktröge mit Pudding –, unsere Notlage hatte nichts damit zu tun. Es ging darum, eine ungerechte Welt zu berauben. Wir gingen nicht mehr in die Mensa und zogen es vor, unsere Mahlzeiten in der Küche des Wohnheims zuzubereiten, wobei uns die Butter vom Kinn tropfte. Wir arbeiteten uns in Buchhandlungen und Plattenläden vor, wobei wir die Garantie hatten, dass niemand sagen würde: «Ich glaube, das verkrüppelte Mädchen dahinten klaut gerade die neue Joni-Mitchell-LP.» Die Umstände hinderten uns daran, Dinge zu stehlen, die größer waren als der eigene Kopf, aber alles andere war zu haben.
In den Frühjahrsferien beschlossen wir, meine Familie in Raleigh zu besuchen. Unsichtbarkeit hat beim Ladendiebstahl seine Vorteile, wirkt beim Trampen aber eher verzögernd. Wir parkten uns an die Bundesautobahn und Pegs Daumen zuckte in unregelmäßigen Intervallen. Die Fünfhundert-Meilen-Reise dauerte fast drei Tage. Unsere Geschichte ging so, dass wir ein junges Ehepaar auf dem Weg nach Süden waren, welches dort ganz neu anfangen wollte. Kirchlich eingestellte Paare hielten an und entschuldigten sich, weil ihr Auto zu klein für einen Rollstuhl war. Mitnehmen konnten sie uns nicht, aber würden wir stattdessen auch zwanzig Dollar und einen Eimer Brathuhn nehmen?
Aber jede Wette. «In Durham gibt es ein Krankenhaus, und wir hoffen, dass die da mehr können», sagte ich und klopfte Peg auf die Schulter. «Hier sind wir, frischverheiratet, und dann muss sowas passieren.»
CB-Funkgeräte wurden aktiviert und Kombiwagen erschienen. In Raststätten näherten sich Kellnerinnen unserem Tisch, flüsterten: «UM DIE RECHNUNG BRAUCHEN SIE SICH NICHT ZU KÜMMERN», und zeigten auf ein Ehepaar mit feuchten Augen, das an der Kasse stand. Wir fanden das amüsant und stellten uns vor, wie diese Samariter prahlend ihren Pastor von dem Vorfall in Kenntnis setzten: «Dann sahen wir dies verkrüppelte Mädchen und ihren Mann, und, naja, viel hatten wir ja nicht dabei, aber man tut, was man kann.»
Jemand meldete uns in einem Motel an, gab uns Geld für den Bus, und wir mussten ihm versprechen, nie wieder per Anhalter zu fahren. Ich hob Peg aus ihrem Stuhl, legte sie aufs Bett und überschüttete sie mit dem Geld. Es war die blasse Imitation einer Filmszene, in welcher clevere Trickbetrüger mit Hundert-Dollar-Scheinen duschen. In unserer Version kamen kleinere Nennbeträge sowie Hartgeld vor, aber immerhin, man hatte das Gefühl, man lebt.
Wir waren in West Virginia, als an Pegs Stuhl ein Rad abging. Der Abend dämmerte auf einer ländlichen Kreis-Straße, weit und breit kein Gebäude in Sicht, als sich ein älterer Mann mit seinem Kleinlaster auf uns stürzte und uns die gesamte Strecke bis zu meinen Eltern vor die Tür beförderte –, ein Trip, der bestimmt nicht auf seinem Wege gelegen hatte. «North Hills Drive fünf-vier-null-sechs? Ist haargenau meine Strecke, macht gar keine Mühe. Und was hatten Sie noch mal gesagt, in welchem Bundesstaat das liegt?»
Wir kamen unangemeldet und überraschten die aufgeschreckten Mitglieder meiner Familie. Ich hatte gehofft, meine Eltern würden sich in Pegs Anwesenheit entspannt benehmen können, aber als sie mit nervöser Unbehaglichkeit reagierten, wurde mir klar, dass das noch besser war. Sie sollten sehen, dass ich ein
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