Nackt
hat. Los, neige deinen leeren Kopf, und dann an die Arbeit. Die Zeit tickt. Ha!»
Unsere Zeit tickte der bevorstehenden Kunsthandwerkerleistungsschau in Portland entgegen, wo Jon ganz groß abzuräumen gedachte. Er hatte eine ziemliche Summe für den Stand bezahlt, erwartete aber, dieses Geld in den ersten zehn Minuten wieder reinzukriegen. «Hier sind die armen Schweine doch so pleite; das Einzige, was die sich noch leisten können, ist der Offenbarungseid, höhö. Portland dagegen, Portland ist doch gleich ganz was anderes. In Portland sitzt das Geld. Wenn ich am Ende des Tages keine dreitausend Eier klargemacht habe, kannst du meine Beine anzünden und zukucken, wie ich auf den Händen nach Hause gehe. Hörst Du das, o Herr? Was meinst Du, Großer? Sind wir im Geschäft?»
Die Kunsthandwerksmesse sollte an einem Samstag zwei Wochen vor Weihnachten auf einem Marktgelände unter freiem Himmel stattfnden. Am Freitag davor machten wir Preisschilder und luden fünfundsiebzig Uhren und vier Kiffkästchen in den Kombi. Jon war in festlicher Stimmung und fuhr mich nach Hause, wobei er sein Referat über Verkaufstechnik unterbrach, um mir eine junge Frau zu zeigen, die am Münzfernsprecher einer Tankstelle stand. «Süßer, gnadenreicher Jesus auf Toast, sieh dir die beiden Aufschlagzünder an! O Jesus, an diesen Titten könnte ich lutschen, bis die Kühe nach Hause kommen. Lass mich ran, lass mich ran.» Ich hatte ihn schon ein- oder zweimal so erlebt, aber diesmal quollen seine Augäpfel so weit vor, dass sie praktisch die Brillengläser berührten. Nachdem er sich wieder unter Kontrolle hatte, setzte er mich vor meinem Anhänger ab und machte eine Uhrzeit aus, zu der er mich am nächsten Morgen abholen wollte.
An diesem Abend erwartete mich vor der Tür eine Plastiktüte mit sechs Briefen und einer Mitteilung von Hobbs, der sich dafür entschuldigte, sie nicht früher abgeliefert zu haben. Er fuhr jeden Morgen zum Briefkasten, um seine Post abzuholen, und meine Briefe hatten sich seit Wochen auf seinem Armaturenbrett angesammelt. Ich näherte mich meiner Post so, wie sich ein Verhungernder zu einem Bankett niederlässt. Es war ratsam, diese Fülle in kleinen Portionen zu genießen, aber ich konnte nicht anders, ich schlang jeden Brief auf einen Haps herunter, wobei meine Augen auf dem Blatt hinauf- und wieder herunter wanderten, als betrachtete ich ein Bild. Zuerst schluckte ich alles herunter, und dann, beim zweiten Lesen, begann ich, jedes Wort zu Speisebrei zu zerkauen. Da war ein Brief von meiner Schwester Lisa und einer von meiner Mutter, und beide hofften, ich würde zu Weihnachten nach Hause kommen. Meine Mutter beschrieb in ihrer vertrauten, stark geneigten Handschrift einen Autounfall am Nordgürtel, dessen Zeugin sie gewesen war. Lisas Brief, säuberlich getippt, teilte mir mit, sie wünsche sich einen Lockenstab zum Geburtstag, zu Weihnachten dagegen eine Kiste mit wahlweise Shampoo oder Schampus. Ich hatte offenbar in absentia ihren Namen gezogen und war nun während der Feiertage für ihr Glück alleinverantwortlich. Es gab zwei Briefe von Veronica, deren erster ihr fröhliches Erntedankfest wiedergab, während der zweite detailliert die jüngst erfolgte Trennung von «diesem Scheißkerl, der einst mein Boyfriend war», schilderte. Es gab einen Brief von meinem Freund Ted und einen von einem alten College-Zimmergenossen. Ich las beide immer wieder, betastete das Wort Liebe immer wieder mit den Fingern, bis ich beide Absender deutlich vor Augen hatte, wie sie an Schreib- und Küchentisch saßen. Das Gefühl als warm zu beschreiben, hieße dem Gefühl Unrecht tun. Es war, als hätten sich meine Toten, nachdem ich sie betrauert und ihre Gräber mit Blumen bepflanzt hatte, im Restaurant an meinen Tisch gesetzt und erklärt, es sei alles ein bedauerlicher Irrtum gewesen. Ich saß am Herd, Toaster und Heizlüfter zu meinen Füßen, als ein grelles Licht auf die Wand fiel und Curly vor der Tür stand. Er riss sie auf, sagte «Lange nicht gesehn», drängte an mir vorbei und prüfte den Inhalt des Kühlschranks, als wäre er eigens zu diesem Zweck ausgesandt worden. «Ich dachte, du wärst aus der Stadt verschwunden, aber dann hat Dorothy gesagt, sie hat dich beim Trampen an der Straße nach Hood River gesehen. Ist sie denn wenigstens schön kuschelig, die Jacke meiner Mutter, Einstein?» Er war noch eindringlicher geworden, aber nicht anziehender. «Ich könnte dich verhaften lassen; das weißt du doch, oder?
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