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Nadelstiche

Nadelstiche

Titel: Nadelstiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baden & Kenney
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Kutsche ein Stück hinter ihnen war niemand in der Nähe. Frisch erwachter Idealismus leuchtete jetzt in Pacos Gesicht. »Er hat die Folter überwacht. Hat den Soldaten gesagt, wie weit sie gehen konnten, damit der Betreffende nicht starb. Damit er weiterlebte und am nächsten Tag wieder gefoltert werden konnte. Dafür hat er seine medizinischen Kenntnisse eingesetzt.«
    Manny schauderte. Sie hatte die Obduktionsfotos von Fortes’ rattenzerfressener Leiche gesehen, hatte sich sein langsames qualvolles Sterben vorgestellt. Es war für sie unbegreiflich gewesen, wie ein Mensch einem anderen so etwas antun konnte. Aber wenn Pacos Behauptung stimmte, machte sie den Mord an Fortes zumindest begreiflicher, wenn auch nicht entschuldbar. Ihr fröstelte bei dem Gedanken, dass Fortes die Folter an jungen Menschen möglichst effektiv gesteuert hatte, dann dieses Leben hinter sich gelassen hatte und nach New York gekommen war, um hier legal als Forscher zu arbeiten. Ein kaltblütiger Killer, der fruchtbarkeitsfördernde Medikamente entwickelte, um neues Leben entstehen zu lassen.
    Sie begann laut zu denken. »In Argentinien war Fortes Gynäkologe. Er hat Babys auf die Welt geholt.«
    Paco erstarrte. Manny spürte, dass er kurz davor war, aus der gemächlich dahinrollenden Kutsche zu springen, daher schlang sie schamlos die Arme um seinen Hals, ohne darauf zu achten, dass sie den armen Mycroft an seiner Leine hochriss, und verschränkte fest die Finger. Für Passanten musste es so aussehen, als wären sie ein ungeniert schmusendes Liebespaar.
    Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. »Raymond Fortes hat die Babys der Desaparecidos entbunden«, sagte Manny und starrte Paco in die Augen. »Dann hat er sie ihnen weggenommen und Fremden zur Adoption übergeben.«
    Pacos Augen füllten sich mit Tränen. Er wand sich aus Mannys Umarmung.
    »Du kennst jemanden, dem man sein Baby weggenommen hat«, sagte Manny. »Deine Eltern … lange vor deiner Geburt …« Doch dann fiel ihr das Foto ein, das sie in Pacos Zimmer gesehen hatte. Es war ein Foto aus jüngster Zeit und zeigte ihn mit einem Mann, der alt genug war, um während des Schmutzigen Krieges geboren worden zu sein. Wer war er?
    Manny lockerte ihre Umarmung. Paco sank in sich zusammen. Auf einmal sah er jung aus, viel jünger als der schicke Achtzehnjährige, den sie vor einer Viertelstunde überrumpelt hatte. Er war viel in der Welt herumgekommen, mehr als die meisten jungen Leute seines Alters, aber er kannte die Welt nicht. Er war ein Kind, ein verängstigtes Kind.
    Manny nahm seine Hand. »Paco, in deinem Zimmer gibt es ein Foto von dir und einem anderen Mann, um die dreißig. Wer ist das?«
    »Esteban«, flüsterte er. »Mein Bruder Esteban.«
    »Ist er adoptiert?«
    Paco nickte. »Ich wusste das nicht. Bis –«
    Er verstummte.
    »Bis der Vampir es dir gesagt hat«, sprach Manny für ihn weiter. »Er kennt das Geheimnis deiner Familie.«
    Paco nickte. »An dem Abend im Club Epoch hat mich einer von den Typen in ein Hinterzimmer geführt und mir einen iPod gegeben, auf dem ich mir was anhören sollte. Eine Stimme hat einfach angefangen zu reden. Er hat Spanisch gesprochen, und es war, als würde ich meinem Vater zuhören, wenn er mir Gruselgeschichten vorlas, als ich noch klein war, nur dass die Figuren in dieser Geschichte meine eigene Familie waren.
    Die Stimme hat gesagt, dass Estebans leibliche Eltern ein junges Studentenpaar war, namens Estrella und Hector. Sie haben an Protesten gegen die Junta teilgenommen. Als Estrella im siebten Monat schwanger war, wurden die beiden entführt, und Hector wurde vor ihren Augen getötet.»
    Pacos Stimme bebte, und seine dunklen Augen blinzelten wild. »Dann hat man Estrella wochenlang grausam gefoltert, bis die Folter schließlich eine Frühgeburt auslöste. Sie haben ihr den Jungen weggenommen, und wenige Tage später ist sie gestorben. Ihre Leiche haben sie ins Meer geworfen.«
    Paco hielt inne, sein Gesicht war blass und feucht, sein Atem kam stoßweise und zittrig. »Was hat der Mann dir sonst noch erzählt, Paco?«, flüsterte Manny.
    »Die Soldaten haben den Kleinen meinem Vater gegeben. Sie wollten, dass das Kind bei jemandem mit der richtigen politischen Einstellung aufwächst.«
    Paco verstummte, zu erschöpft, um weiterzureden.
    »Aber, Paco, wie kannst du sicher sein, dass das Baby des verschwundenen jungen Paars wirklich dein Bruder Esteban war? Ich meine, da erzählt dir irgendein Verrückter eine

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