Nadelstiche
Geschichte, und du glaubst ihm einfach? Was hat dein Vater dazu gesagt?«
»Er weiß nicht, dass ich es weiß. Er hat das vor uns allen verheimlicht. Diese furchtbaren Leute kontrollieren ihn immer noch. Und er lügt und lügt und lügt. Meine ganze Kindheit war voll von Dingen, die irgendwie keinen Sinn ergaben, Dinge, zu denen ich keine Fragen stellen durfte. Jetzt ergibt alles einen Sinn.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Ich war immer der Liebling meiner Großeltern. Esteban gegenüber waren sie unterkühlt, und ich hab nie verstanden, wieso. Und mein Vater … tja, mein Vater geht mit allen Menschen hart um, aber zu meinem Bruder war er besonders hart.«
»Das leibliche Kind wurde dem adoptierten vorgezogen«, sagte Manny.
»Ja. Und es gibt keine Fotos von Esteban als Baby und keine von meiner Mutter, wie sie mit ihm schwanger ist, aber von mir gibt es kistenweise Babyfotos. Und Esteban war als Kind klein und kränklich.«
»Weil er zu früh zur Welt gekommen war«, sagte Manny. »Die Hebamme muss Amanda Hogaarth gewesen sein. Sie hat nebenbei für Dr. Fortes gearbeitet, ihm bei den Entbindungen geholfen.«
Paco nickte. »Deshalb ist es mir auch egal, dass der Vampir die beiden getötet hat. Aber ich will nicht, dass Travis was passiert, und ich will nicht, dass meine Mutter das alles je erfährt.«
»Aber, Paco, deine Mutter weiß, dass Esteban adoptiert ist.«
»Ja, aber sie weiß nicht, woher mein Vater das Baby bekommen hat. Da bin ich sicher. Er muss sie angelogen haben. Wahrscheinlich hat er ihr erzählt, Esteban wäre einfach nur ein Waisenkind, das ein Zuhause braucht. Bestimmt hat sie sich sehnsüchtig ein Baby gewünscht. Aber meine Mutter wäre niemals einverstanden gewesen, das Kind einer Ermordeten anzunehmen und es von seinen übrigen Verwandten fernzuhalten. Sie wissen doch, wie gutherzig sie ist. Sie hat Esteban wie ihr eigenes Kind aufgezogen, weil sie glaubte, er wäre allein auf der Welt. Sie liebt ihn, hat ihn immer geliebt. Anders als mein Vater.«
Ein dunkler Schatten legte sich über Pacos Gesicht. Die finstere Miene brachte die Ähnlichkeit mit seinem Vater zum Vorschein. »Paco«, sagte Manny, »du musst mit deinem Vater reden. Die Wahrheit herausfinden. Vielleicht weiß er, wer der Vampir ist, was ihn antreibt.«
»Nie im Leben! Er würde doch bloß lügen – das kann er am besten. Er würde alles tun, um seinen Ruf zu schützen, seine Position.« Pacos Stimme wurde lauter, und wieder wandte sich der Kutscher zu seinen lebhaften Fahrgästen um. »Dann schickt er mich irgendwohin, und keiner ist mehr da, um meine Mutter zu beschützen. Sie hat doch nur mich. Das kann ich nicht zulassen.«
»Was ist mit deinem Bruder? Weiß er es?«
»Esteban ist Arzt. Nach seiner Facharztausbildung ist er für ein Jahr zu Ärzte ohne Grenzen gegangen. Derzeit ist er im Sudan – telefonisch unerreichbar. Manchmal schafft er es, uns eine E-Mail zu schreiben. Aber so eine Neuigkeit kann ich ihm doch nicht per E-Mail schicken. Das würde ihn umhauen. Und es ist ziemlich gefährlich da, wo er ist.
Da muss er immer hellwach sein, aufmerksam. Ich will ihn nicht noch mehr in Gefahr bringen. Ich werde es ihm sagen, wenn er in sechs Monaten zurückkommt.«
Manny starrte zu Mycroft hinunter, der selig zu ihren Füßen ein Nickerchen machte. Selten hatte sie sich so hilflos gefühlt. Familien wie die Sandovals, wo alle nach außen hin ein fröhliches Gesicht aufsetzten, während sie zu Hause über ein Minenfeld schlichen, waren ihr fremd. In der Familie Manfreda gab es nichts Unausgesprochenes. War man glücklich, freuten sich alle mit einem; war man traurig, wusste jeder, warum; war man wütend, schrie man sich gegenseitig an, um sich zwei Minuten später wieder versöhnlich in den Armen zu liegen. Ein Geheimnis zu wahren war unmöglich, auch wenn man sich noch so viel Mühe gab. Die Spielsucht von Onkel Bobby, die außereheliche Affäre von Cousine Kay, die Darmspiegelung von Tante Joan – alles sattsam bekannt und bei Familientreffen in allen peinlichen Einzelheiten durchgehechelt. Manny hatte einfach keine Erfahrung mit dieser Art von Stillschweigen, wie die Sandovals es praktizierten. Wie konnte sie Paco dazu bringen, mit seinem Wissen zu seinem Vater zu gehen und ihn zur Rede zu stellen? Eine einzige Kutschfahrt durch den Central Park würde nicht ausreichen, um achtzehn Jahre mit einer ungesunden Familiendynamik unwirksam zu machen.
Ob es leichter wäre, Paco davon zu überzeugen, dass er mit
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