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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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sein gesamter Körper ist zu einem Fragezeichen geformt. Marc dagegen scheint nur mal eben die Augen geschlossen zu haben.
    Wir passieren den Flughafen. Viermotorige Düsenmaschinen mit 65 Meter Spannweite retten sich knapp über die Autobahn, um schwerfällig hinter dem Zaun aufzusetzen. Der Himmel ist übervölkert von ihnen. Durch das Schiebedach stürzt man kopfüber in einen Ozean voller Fische, die weiße Streifen hinter sich herziehen.
    Als ich zum Tanken rausfahre, schlägt Lilith die Augen auf. »Geil«, sagt sie, »ich sterbe vor Hunger. Außerdem mach ich mir gleich in die Hose.«
    Während ich noch darauf warte, dass eine Zapfsäule frei wird, steigt sie bereits aus dem Bus. Die Tür in der Hand, betrachtet sie mich. »Du siehst sagenhaft müde aus.«
    »Hab nicht viel geschlafen«, antworte ich.
    Sie zögert. »Du schläfst selten viel, kann das sein?«
    Mit beiden Händen halte ich das Lenkrad fest. Dabei stehen wir in der Warteschlange. »Wie kommst du darauf?«
    »Du siehst aus wie jemand, der zu wenig schläft«, sagt sie, als erkläre sich das von selbst.
    »Meistens«, gebe ich zu.
    »Heißt das, du bist
immer
müde?«
    »Meistens.«
    Lilith blickt auf die Rückbank. Marc und Bernhard rühren sich nicht. »Wie wär’s mit ’nem Kaffee?«
    »Nicht nötig, danke.«
    »Wieso – trinkst du keinen?«
    |44| Offenbar ist Lilith jemand, der sich selten mit der ersten Antwort zufriedengibt. »Schon«, antworte ich, »geht aber auch ohne.«
    Ich tanke, bezahle und will gerade den Motor anlassen, als Lilith auf den Bus zugelaufen kommt. Ich weiß nicht, wie sie es anstellt, aber sie läuft tatsächlich – trotz Flaschen unter den Armen und zwei Brötchentüten in jeder Hand. Es gelingt ihr ein Lächeln, obwohl von ihren Zähnen ein Plastikbecher baumelt. Ich öffne von innen die Beifahrertür.
    »Hier.« Sie hält mir mit den Zähnen den Becher hin – Latte Macchiato mit Schraubverschluss aus dem Kühlregal. »Fies geiles Zeug.«
    »Ich hab doch gesagt, es geht auch ohne«, sage ich.
    »Danach hab ich aber nicht gefragt.«
    Lilith behauptet, das Essen sei für uns alle, aber Marc und Bernhard denken nicht ans Aufwachen, und so sehe ich nacheinander drei belegte Brötchen und eine Apfeltasche in ihrem Mund verschwinden. Anschließend nimmt sie sich eine von Marcs Zigaretten.
    »Wo fahrt
ihr
eigentlich hin?«
    »Nach La Ciotat«, sage ich.
    »Wo ist
das
denn?«
    »Weiß ich nicht genau«, sage ich.
    Und dann erzähle ich ihr von dem Haus und dass ich nicht erklären kann, weshalb ich Onkel Hugo dort nie besucht habe. Dass er einfach irgendwann aus meinem Leben verschwunden ist.
    Als ich mit meiner Geschichte fertig bin, ist auch der Becher leer. »Danke für den Kaffee«, sage ich.
    Wir schieben uns im Gleichschritt mit tausend anderen über die verengten Spuren einer Baustelle irgendwo südlich von Darmstadt. Lilith kurbelt das Fenster herunter. Ihre Locken beginnen zu tanzen.
    »Danke fürs Mitnehmen.«
    »Ist nicht mein Bus«, sage ich.
    »Aber deine Reise.«
    Ich lasse es einen Moment sacken, bevor ich sage: »Du hast gerne das letzte Wort, stimmt’s?«
    »Stimmt.«

|45| 9
    Kurz hinter Mannheim schreckt Marc aus dem Schlaf auf. Im Traum ist ihm die Lösung für seine Idee gekommen.
    »Ich hab’s!«, ruft er und greift sich die Gitarre. Nach wenigen Minuten hat er einen Reigen aus Akkorden geknüpft, der jedesmal, bevor er sich zu einem Kreis schließt, einen neuen Anfang nimmt.
    »Wow!« Lilith ist ehrlich beeindruckt, als ihr klar wird, dass Marc kein Lagerfeuer-Klampfenheini ist, wie sie vorhin gedacht hat, sondern einer, der wirklich was draufhat. »Das ist cool! Klingt wie dieses eine Stück von Ben Harper … Morning, Yearning.«
    Marc bricht ab, als er gerade das richtige Picking gefunden hat. »Das ist das Problem«, antwortet er. »Alles klingt wie etwas, das es schon gibt.«
    »Aber Ben Harper ist doch ganz weit vorne!«
    »Schon. Nur bin ich nicht Ben Harper.«
    »Besser, du klingst wie Ben Harper, als du machst irgendwas, das einem die Fußnägel aufrollt, nur weil es noch nie da war.«
    Während Marc seine Gedanken ordnet, suchen seine Finger alleine weiter. »Gut wäre«, überlegt er, »etwas zu finden, das du kennst und das trotzdem noch nie da war.« Er zupft einen neuen Akkord, der ihm beim Sprechen unter die Finger gerutscht ist. »Fis moll mit kleiner Septime«, stellt er fest und kratzt sich seinen Lockenkopf. Unsere Blicke treffen sich im Rückspiegel. »Wie findst’n

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