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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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den?«
    Ich versuche, mich auf den Klang einzulassen. Marc zupft ihn im Kreis. Da reibt etwas, aber ganz weich. »Schön«, sage ich, »Sonnenaufgang bei Nebel.«
    Marc schüttelt den Kopf: »Ja, schön ist er. Aber nicht da, wo ich ihn brauche. Mit der Musik … das ist wie mit dem Leben, Mann: Alles macht nur Sinn, wenn es da ist, wo es hingehört. |46| Und dieser Fis-moll-Septakkord gehört definitiv woandershin.« Er dreht an den Wirbeln und zieht die Saiten nach. »Und ich dachte, ich hätte ihn.«
     
    In einem Wald hinter Freiburg legen wir unsere letzte Pause ein. Die Luft ist getränkt von Frühlingsduft, alles saugt sich voll, mit Farbe, mit Leben, das große Fressen, bevor der Sommer kommt und alles austrocknet.
    Lilith steht abseits und hält sich ihr Handy ans Ohr. Laura, denke ich, sie telefoniert mit ihrer Professorin. Ich sehe das Hoffen in ihrem Gesicht, ihre Zähne blitzen auf, und dann wird mir klar, dass sie umkehren wird. An der nächsten Tankstelle lässt sie sich von uns absetzen und tritt den Rückweg an.
    Sie kommt zurück und sieht mich forschend an: »Tut dir was weh oder so?«
    »Mit wem hast du denn da eben telefoniert?«, frage ich, als sei sie mir eine Erklärung schuldig.
    »Mit meiner Schwester. Ihr könnt alle bei ihr pennen. Cool, oder?«
    Bernhard macht das, was er immer macht, sobald wir anhalten: Liegestütze. Wahlweise auch Klimmzüge. Der Rauch im Bus bringt ihn zur Verzweiflung. Es ist wie eine Folter, zentimeterweise frisst sich das Gift in ihn hinein. Also macht er immer, wenn er sich gerade mal zurücklehnen könnte, Liegestütze oder fängt an zu rennen. 50 am Stück, dann noch einmal 50, dann noch mal.
    Anschließend geht auch er ein paar Schritte und hält sich sein Handy ans Ohr. Ich weiß, wo er anruft: im Rosengarten. Er fragt nach, wie es seiner Mutter geht und ob sie ihn heute vermisst hat. Der Mutter geht es wie gestern und vorgestern und all die Tage davor. Und ob sie ihn heute vermisst hat? Ach, Herr Niemeyer, wer weiß das schon?
    Bernhard steht auf einem Sonnenflecken, der über das Gras zuckt. Ich sehe sein Gesicht traurig werden. Er würde gerne mit ihr reden, ihr alles erklären, sie teilhaben lassen. Doch sie kann nicht antworten. Ihr Herz schlägt noch, aber es kommt nichts mehr zurück.
    |47| »Was hat er denn?« Lilith steht neben mir. Wir teilen uns einen Sonnenfleck.
    »Kummer.«
    »Kann man da nichts machen?«
    »Kannst du Parkinson heilen?«
    Sie sieht mich von der Seite an. »Sehr witzig.«
    »Dann nicht.«
     
    Es wird still im Bus. Marc hat seinen Song nicht gefunden, Bernhard hat eine Mutter, der er seit Jahren beim Sterben zusehen muss, Lilith erblickt durch die Heckscheibe den Scherbenhaufen, den sie gerade zurücklässt. Auch der Tag kommt zur Ruhe. Tiere verkriechen sich im Unterholz, Insekten fliegen in ihre Nester zurück, Blütenkelche schließen sich.
    Von Ferne rücken Berge heran, richtige Berge diesmal – steinerne Titanen, die bedrohlich in den Abendhimmel aufragen. Wenig später umringen sie uns, der Auspuff röhrt, und ich gebe mein Bestes, den dritten Gang festzuhalten. Und dann, unerwartet und größer, als mein Blick ihn fassen kann, breitet sich der See unter uns aus, glänzend, wie poliert, in fast schwarzem Violett. Manche der Titanen versinken hüfthoch im Wasser, umschleiert von Nebelschwaden, die sich zwischen den Felsen hindurchwinden und vom Zwielicht verschluckt werden.
    »Na?«, fragt Lilith. »Hab ich euch zu viel versprochen?«
    »Hossa«, sagt Marc.
    Bernhard sagt nichts. Er wünscht sich, seine Mutter könnte das sehen. Ich halte an, und für einige Minuten blicken wir einfach nur auf den See hinab.
     
    Hinter Lausanne lässt Lilith mich von der Autobahn abfahren und dirigiert mich eine gewundene Straße hinab, auf der wir die letzte halbe Stunde entlang des Sees fahren. Wann immer sich der Blick auf das Wasser öffnet, sieht man durch den Dunst die sich spiegelnden Lichter auf der anderen Seeseite. Letzte Boote treiben im schwindenden Tageslicht mit faltigen Segeln ihren Liegeplätzen entgegen.
    Viel ist es nicht, was ich über Onkel Hugos Leben weiß: Seine |48| Arztpraxis hat er letztes Jahr an einen Kollegen verkauft, ein Boot, keine Kinder, war nie verheiratet. Ich frage mich, ob er ein erfülltes Leben hatte. Ob es so war, wie er es wollte. Und ob es so endete wie dieser Tag: Mit der Gewissheit, dass alles da war, wo es hingehörte. Ob er bis zuletzt nach vorne geblickt hat oder ob sich irgendwann auch sein

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