Nächsten Sommer
Sitz gedreht hat und er nur noch sah, was bereits hinter ihm lag.
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Es gab eine Zeit, da sah Andra genauso gut aus wie ihre kleine Schwester – vor der Hochzeit und vor den Kindern. Attraktiv ist sie immer noch, wenngleich auf andere Weise: auf tragische. Im Flur hängen gerahmte Bilder aus unbeschwerten Zeiten, auf denen Lilith und sie noch das gleiche Leuchten in den Augen haben. Inzwischen ist es erloschen und durch einen sehnsuchtsvollen Zug um den Mund ersetzt worden.
Die Freude über das Wiedersehen mit ihrer Schwester ist überschwänglich. Am liebsten würde sie Lilith gar nicht mehr aus ihrer Umarmung entlassen. Patrick, der Kleine, schläft schon, Nicklas, vier Jahre und schon groß, ist noch auf, weil er unbedingt auf seine Tante warten wollte und jetzt so an ihrem Bein hängt wie Andra an ihrem Hals.
»Jetzt kriegt euch mal wieder ein«, sagt Lilith, löst sich aus Andras Umklammerung und nimmt Nicklas auf den Arm.
»Lilu!«, ruft er und reibt seinen Kopf an ihrer Schulter. »Tante Lilu!«
»Klaus!«, ruft Andra, »Lilith und ihre Freunde sind da!«
Es ist nicht ganz klar, warum das so ist, aber als sich am Ende des Flures die Flügeltür öffnet und Klaus heraustritt, erstarrt für einen Moment sämtliches Leben. Meins eingeschlossen. Dabei erscheint Klaus auf den ersten Blick ebenso unspektakulär wie sein Name. Er ist mittelgroß, eher fünfzig als vierzig, und seine Haare beginnen sich zu lichten. Zwischen Daumen und Zeigefinger baumelt eine Lesebrille. Offenbar gehört er zu den Menschen, die, wenn sie aus dem Büro nach Hause kommen, ihr Jackett zwar aufhängen, den Rest ihres Anzugs aber anlassen, Krawatte inbegriffen.
Seine müden Augen blicken den Flur hinunter. »Guten Abend«, sagt er.
Danach setzt das Leben wieder ein. Nicklas springt Lilith aus |50| dem Arm und läuft zu seinem Vater. »Tante Lilu!«, ruft er und zieht Klaus am Hosenbein.
»Das sehe ich«, sagt Klaus und nickt Lilith zu. »Na, dann können wir ja jetzt essen.«
Im Esszimmer wartet ein gedeckter Tisch auf uns, doch vorher bringen wir noch unsere Sachen ins Gästezimmer: ein Doppelbett, zwei Besuchermatratzen, die auf dem Boden liegen, weiße Fliesen, 30 mal 30, diagonal, mit grauen Fugen. Lässt sich am einfachsten sauber halten. Der Rest der Wohnung sieht aus wie ein IKEA-Showroom, der nicht nach IKEA aussehen soll.
Nachdem Lilith sie von unterwegs angerufen hat, um anzukündigen, dass es drei mehr werden, ist Andra noch einmal aufgebrochen, um Fleisch nachzukaufen. Es gibt Geschnetzeltes nach Züricher Art, dazu einen Rotwein, den Klaus nach einem wehmütigen Blick auf das Etikett entkorkt. Nicklas ist müde und überdreht, will nichts essen und möchte am liebsten den ganzen Abend auf dem Schoß seiner Tante verbringen. Zweimal sagt er: »Papa?«, und bekommt zur Antwort: »Jetzt nicht.« Er möchte Lilith zeigen, dass er schon seinen Namen schreiben kann, mit vier, und MAMA und PAPA und PATRIK und LILU.
Er geht aus dem Zimmer, findet einen Stift, aber kein Papier, kommt wieder herein, geht zu Klaus und sagt: »Papa, wo …«
»Nicht jetzt, hab ich gesagt!«
So schweigsam Klaus ist, so mitteilsam ist Andra. Zwischen ihre Sätze passt kaum ein Reiskorn: die Kinder, die neue Wohnung, die Handwerker, dass Nicklas nächstes Jahr eingeschult wird und sie sich nicht entscheiden können, auf welche Schule sie ihn geben sollen, die Eltern, die täglichen Mühen, und natürlich Klaus, der sooo viel zu tun hat, jetzt noch mehr als sonst, wo »das Projekt« in der heißen Phase angekommen ist, der arme Klaus, stimmt’s, Klaus?
Klaus blickt auf, als wolle er sagen: Jetzt nicht.
Er arbeitet am Cern, und »das Projekt« ist der neue Teilchenbeschleuniger, den man in jahrelanger Arbeit durch die Erde gefräst hat und der jetzt kurz vor der Inbetriebnahme steht. Als Bernhard fragt, worin Klaus’ Aufgabe bestehe, antwortet Andra: |51| »Das müsst ihr euch von Klaus erklären lassen, dafür bin ich zu dumm, fürchte ich. Klaus?«
Klaus blickt auf. »Hm?«
»Wir haben uns gefragt, was genau Sie da machen – bei dieser Teilchen-Carrerabahn«, sagt Marc.
»Oh.« Klaus legt die Fingerspitzen aneinander. Sein Interesse an uns, das haben inzwischen alle bemerkt, ist in etwa so groß wie Marcs Interesse an Wurzelgleichungen. Doch es ist nichts Persönliches, er hat einfach am liebsten seine Ruhe. »Das ist sehr komplex. Wie alles dort …«
»Probier es doch mal«, sagt Lilith und wirft ihrer Schwester einen
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