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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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Seitenblick zu. »Vielleicht sind wir ja gar nicht sooo dumm und verstehen es trotzdem.«
    Sie hat Nicklas ein Blatt besorgt. Der sitzt wieder auf ihrem Schoß, verzieht seinen Mund und reiht mit äußerster Konzentration Buchstaben aneinander. Schwerstarbeit für einen Vierjährigen. Trotzdem ist er ganz versessen darauf.
    »Wenn
ich
es nicht verstehe …«, sagt Marc mit vollem Mund und deutet mit dem Messer in meine Richtung, »
der
da kapiert’s garantiert. Felix ist ein Genie.«
    Klaus’ Mundwinkel verziehen sich zu etwas, das ich als Lächeln deute: »Ein Genie, so so …« Er nimmt die Serviette aus dem Schoß und lässt sie aus zwanzig Zentimetern auf den Tisch fallen. »Na, ich kann es ja versuchen«, sagt er und beginnt, uns zu erklären, dass der Teilchenbeschleuniger des Cern nirgendwo auf der Welt seinesgleichen hat: Der LHC – der Beschleunigerring – ist 27 Kilometer lang. Tatsächlich verläuft er in exakt 115 Metern Tiefe genau unter dem Tisch durch, an dem wir gerade sitzen. Ab August werden dort mit nie zuvor erreichter Geschwindigkeit Atomkerne aufeinandertreffen, die durch die Wucht des Aufpralls in ihre Einzelteile zersplittern, sich dabei auf mehrere Billionen Grad erhitzen und für den billionstel Teil einer milliardstel Sekunde die DNA des Universums offenbaren. Eine Urknall-Simulation, zehntausendmal pro Sekunde. »Wir werden zum Ursprung allen Seins vorstoßen«, erläutert Klaus, der jetzt ganz in seinem Element ist. »Zum ersten Mal wird der Mensch begreifen,
was
er eigentlich ist.«
    |52| »Wo andere schon froh wären, wenn sie wüssten,
wer
sie sind«, nuschelt Marc.
    »Und worin genau besteht Ihre Aufgabe?«, fragt Bernhard.
    Die Teilchen, erklärt Klaus, werden durch ein Magnetfeld in der Spur gehalten, 10000 Magneten, die die Beschleunigerrohre ummanteln und den Protonenstrahl in die Kreisbahn zwingen. Das allerdings gelingt nur, wenn der Strom widerstandslos durch die Magneten fließt, und das wiederum bedeutet, dass sie auf konstant minus 271 Grad gekühlt werden müssen. »Zehntausend Magneten, bei minus 271 Grad. Könnt ihr euch vorstellen, wie so etwas funktioniert?«
    »Keine Ahnung«, gesteht Bernhard.
    Es ärgert ihn, dass er nicht darauf kommt. Er hat Maschinenbau studiert, war einer der Besten. Nanotec hat ihn sofort eingestellt. Wenn er die Ergebnislisten einer Materialprüfung auswertet, braucht er keine fünf Minuten, um den Finger in die Wunde zu legen. Und jetzt sitzt er hier und muss sich vorführen lassen.
    »Supraflüssiges Helium«, schlage ich vor.
    Klaus sieht mich an, als bemerke er erst jetzt, dass ich mit am Tisch sitze: »Supraflüssiges Helium«, wiederholt er. »Eine Flüssigkeit, mit der sonst bestenfalls in Fingerhutgröße experimentiert wird. Und wir brauchen hundert Tonnen davon.« Er schüttelt den Kopf bei dem Versuch, die Bedeutung seiner eigenen Arbeit zu ermessen. »Das ist der Bereich, den ich verantworte. Wenn das Kühlsystem versagt und sich auch nur
ein
Magnet um ein paar Grad erwärmt, dann …«
    »Durchschlägt der Protonenstrahl das Metall und bringt es zum Schmelzen«, sage ich.
    Klaus taxiert mich: »Genau so ist es.«
    Marc schiebt sich zwei Gabeln Reis in den Mund. »Hab doch gesagt, er ist ein Genie.«
    Hinter Klaus’ Pupillen geht eine unsichtbare Veränderung vor. Eben noch verschwendete er seine Zeit an eine lästige Person, die seinen guten Wein trank und die noch dazu seine lesbische Schwägerin angeschleppt hatte, jetzt plötzlich sitzt ihm jemand gegenüber, der seinen Gedanken folgen, ihm vielleicht sogar das Wasser reichen kann, womöglich gar ein Gegner?
    |53| »Und?«, fragt er, während er Messer und Gabel auf dem Teller kreuzt, »ist dieses Genie auch des Schachspiels mächtig?«
     
    Wir spielen im Wohnzimmer. Ich werde angewiesen, auf einem weißen Ledersofa Platz zu nehmen. Klaus trägt die Weingläser herbei, schenkt nach, zieht sich einen Stuhl heran, damit wir uns gegenübersitzen. Lilith bringt Nicklas ins Bett, Bernhard hilft Andra in der Küche, Marc geht auf den Balkon und raucht seinen Gute-Nacht-Joint.
    Der Couchtisch besteht zu zwei Prozent aus Messing und zu 98 aus Glas. Klaus stellt ein gläsernes Schachbrett darauf, mit gläsernen Figuren. Wann immer er auf meinen nächsten Zug wartet, sehe ich durch das Brett und den Tisch hindurch, wie sein rechter Schuh unhörbar auf den weißen Teppich klopft.
    Bei Zug Nummer 18 öffne ich Klaus unauffällig eine Hintertür zu meiner Festung, an der er munter

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