Nächsten Sommer
vorbeigaloppiert. Drei Züge später öffne ich die Vordertür. Er grübelt einen Moment und schiebt seinen Läufer daran vorbei. Mit dem 24. lasse ich die Zugbrücke herab und warte so lange, bis sein Bauer praktisch darüberstolpert. »Ha«, ruft Klaus, als er begreift, was ihm da in den Schoß gefallen ist. Sechs Züge später erstürmt eine Spezialeinheit die Hoheitsgemächer und reißt meinem König den Kopf ab.
Klaus steht auf und gibt mir die Hand. »Gut gespielt«, sagt er. Jetzt, da er glaubt, mich geschlagen zu haben, siezt er mich sogar. »Was Ihnen fehlt, ist der Wille.« Er bohrt seinen Zeigefinger durch eine imaginäre Burgmauer direkt in mein Brustbein hinein. »Die Stoßrichtung muss stimmen.« Er lächelt milde. »Leider lässt sich das nicht erlernen. Das ist einem gegeben. Oder eben nicht.«
»Danke«, sage ich.
Lilith sitzt noch mit ihrer Schwester in der Küche, als Bernhard, Marc und ich ins Bett gehen. Schon beim Zähneputzen merke ich, dass Marc etwas beschäftigt. Kaum hat Bernhard die Tür hinter uns geschlossen, platzt es aus ihm heraus.
»Wieso lässt du den gewinnen, hey? Und erzähl mir jetzt nicht, er sei besser als du. Ich hab’s an deinem Gesicht gesehen – du hast nicht mal richtig nachgedacht.«
|54| »Doch«, entgegne ich. »War wirklich nicht einfach.«
»Was war nicht einfach?«
»Ihn gewinnen zu lassen.«
Einen Moment bilden wir ein perfektes Dreieck, Bernhard, Marc und ich. Als ich auf den Boden sehe, erkenne ich, dass wir Figuren sind, auf einem diagonal verlegten Schachbrett, mit Feldern in 30 mal 30, alle in Weiß.
»Du hast ihn gewinnen lassen?«, fragt Bernhard.
Ich rücke zwei Felder nach links und bringe mich aus der Schusslinie. »Ich dachte, wenn ich ihn gewinnen lasse, hat er vielleicht mal Zeit für seinen Sohn«, sage ich.
Marc und ich teilen uns das Doppelbett. Wir sitzen auf der Kante und zählen Bernhards letzte Liegestütze mit, als sein Handy klingelt und er aufspringt, als sei er ertappt worden. Noch ganz außer Puste, checkt er das Display, zieht verwundert die Brauen in die Höhe, hält sich das Handy ans Ohr und sagt: »Hallo!«
Marc und ich sehen uns an. So, wie Bernhard ›Hallo‹ sagt, kann das nur eins bedeuten: Zoe ist dran.
Minutenlang hören wir Bernhard Sätze mit maximal zwei Worten sagen: Ja, nein, kein Problem, natürlich nicht, in Genf, ja, Und warum? Aha, macht nichts, bestimmt, nein, ganz sicher, ganz bestimmt, elf zwanzig, Genf, am Flughafen, klar doch, bis dann. Im letzten Satz steigert er sich auf drei Worte: »Ich freu mich.« Er beendet die Verbindung und starrt sein Handy an, als erwarte er einen aus dem Display springenden Boxhandschuh.
»Das war Zoe«, sagt Bernhard.
Marc: »Ach.«
Ich: »Echt?«
»Sie fragt, ob wir sie doch mitnehmen können.«
Marc und ich tauschen einen weiteren Blick.
»Sie hat einen Flug gebucht, Ankunft elf Uhr zwanzig. Ich hab ihr gesagt, dass wir sie abholen.« Bernhards Blick ist eine Mischung aus
ich weiß, ich hätte euch wenigstens fragen müssen
und
sagt jetzt bloß nicht nein!
Noch immer hält er sein Handy umklammert.
|55| Marc steht auf und macht das Licht aus: »Freut mich, dass auch dir kleinere Umwege nichts mehr ausmachen.«
Bernhard schläft wie aufgebahrt, auf dem Rücken liegend, die Hände auf der Brust gekreuzt. Marc hat sich neben mir in seine Decke eingerollt, sich zur Wand gedreht und schnarcht. Lilith und Andra reden noch in der Küche. Manchmal wird Lilith energisch, dann sagt Andra, sie solle doch bitte leiser sein. Irgendwann weint Andra. Oder Lilith. Oder beide. Ich frage mich, was Onkel Hugo an meiner Stelle getan hätte – ob er Klaus hätte gewinnen lassen. Oder eben nicht.
Es ist nach drei, als Lilith ins Zimmer kommt. Ich schließe die Augen und stelle mich schlafend. Einen Moment verharrt sie neben dem Bett. Sie riecht gut. Eine Mischung aus Seife und Sonne. Schließlich stößt sie ein »Pffft« aus und legt sich auf die freie Matratze.
»Schläfst sowieso nicht«, flüstert sie ins Dunkel des Zimmers hinein.
Eine Zeitlang ist nur Marcs gleichmäßiges Schnaufen zu hören. Dann sagt Lilith plötzlich: »Wie kann man sich nur so klein machen?«
Ich antworte nicht.
»Ich meine meine Schwester«, ergänzt sie.
»Dachte ich mir.«
»Dachte ich mir, dass du dir das dachtest.«
»Du willst wieder das letzte Wort haben, stimmt’s?«
»Immer.«
»Gute Nacht.«
»Selber.«
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Als ich sieben war, schenkte mir Onkel Hugo einen
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