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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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voll, dass einfaches Atmen völlig ausreicht.
    Zoe meint: »Um dein Glück zu finden, müsstest du erst einmal begreifen, was dir überhaupt etwas
be deutet
. Du willst immer nur loslassen. Gibt’s auch mal irgendwas, das du festhalten willst?« »Ja, Asket«, sagt Bernhard, »was bedeutet dir denn überhaupt was?« Er ist ein bisschen Zoes Papagei, seit er den Joint mitgeraucht hat.
    Ich überlege: Es gibt Dinge, die mir etwas bedeuten. Diese Fahrt bedeutet mir etwas. Dass ich mit Marc und den anderen in diesem Bus sitze und diese Reise unternehme. Dass ich nicht allein sein werde, wenn ich Onkel Hugos Haus betrete. Doch von all dem sage ich nichts.
    |89| In der Kita, für die ich den Fahrdienst mache, gibt es einen Jungen, der mir etwas bedeutet. Benno. Die Kita ist übrigens eine Behinderteneinrichtung. 40 zarte Seelen, die alle ein Los gezogen haben, das keiner freiwillig ziehen würde. Alles dabei, was andere gerne als Schimpfwort benutzen, vom »Mongo« bis zum »Vollspasti«, mit dem man nichts anderes tun kann, als ihn richtig zu lagern, damit er keine Druckstellen bekommt und nicht an seinem Erbrochenen erstickt. Jeden Morgen fahre ich durch Kreuzberg, Friedrichshain und Treptow, um sieben dieser Seelen einzusammeln. Am Nachmittag bringe ich sie zurück.
    Benno ist eine von ihnen. Sechs Jahre alt. Autist. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, was in seiner Welt gerade vorgeht, wie es sich dort anfühlt. Veränderungen jeglicher Art sind der Horror für ihn, insbesondere räumliche. Wenn ich ihn abhole, tritt und schlägt er um sich und schreit aus Leibeskräften, bis er vor Erschöpfung in seinem Sitz einschläft. Ich bin sicher, dass er jeden Morgen aufs Neue für immer seiner Familie entrissen wird, sein Zuhause, seine Eltern und Geschwister verliert – alles, was ihm Sicherheit gibt. Seine Mutter zerfließt stets in ohnmächtigem Mitleid, wenn ich davonfahre und Benno gegen die Scheibe trommelt. Nachmittags ist es dann umgekehrt: Er kratzt und beißt und schlägt um sich, weil er auf keinen Fall aus dem Bus steigen will. Als hätte er seine Großmutter, die ihn in Empfang nimmt, noch nie gesehen.
    »Komm, Benno«, verspricht die Oma, »wir gehen in die Waschküch’. Ich zeig dir, wo die Maschinen stehn.« Das ist die einzige Möglichkeit, Benno ohne Gewaltanwendung aus dem Bus zu bekommen. »Komm, die Omi zeigt dir die Maschinen.«
    Irgendwann beruhigt er sich, überlegt noch einige Minuten und lässt sich schließlich von mir aus dem Sitz heben. Einen Moment krallt er sich noch an der Armlehne fest, aber irgendwann lässt er los. Der Ruf ist unwiderstehlich: »Komm, wir gehen zu den Waschmaschinen …«
    Vor zwei Wochen, an einem Tag wie jedem anderen, nahm er morgens, als wir in der Kita ankamen, beim Aussteigen meine Hand. Er sah nicht zu mir auf oder so, sondern schob nur seine Hand in meine, wie zufällig. Als ich mich von ihm lösen wollte, |90| verstärkte er seinen Griff. Seit zwei Jahren hole ich ihn morgens ab und bringe ihn nachmittags zurück, und bis zu diesem Tag gab es keinen Hinweis darauf, dass er mich jemals wahrgenommen hätte. Er zog mich sanft in die Kita, vorbei an den Gruppenzimmern, durch einen dunklen Flur, der größtenteils aus blauem Linoleum bestand, bis zum Zimmer der Gruppe 6, der Integrationsgruppe.
    Dort waren bereits alle versammelt. Die Erzieherinnen sagten, ich solle Benno einfach machen lassen, er sei vogelfrei, der Einzige ohne feste Gruppe. Also folgte ich ihm zu einem Spielzeugregal, vor das er sich setzte, als wolle er meditieren. Erst als er sicher war, dass ich nicht aufstehen würde, ließ er meine Hand los. Anschließend begann er, eine nach der anderen, die Sachen aus dem Regal zu räumen: Puppen, Steckspiele, Holzringe, eine Schlitztrommel, ein Xylophon und so weiter. Bald saßen wir inmitten eines Spielzeugkraters.
    Ganz hinten im Reagl lagen, übereinandergestapelt, drei alte Versandhauskataloge. Benno entschied sich für Quelle. Den Katalog vor sich auf dem Boden, begann er, die Seiten umzublättern. 1000 Seiten, zehn Sekunden pro Seite. Für diesen Tag schien er nicht mehr viel vorzuhaben.
    Mein Hintern schlief bereits ein, als Benno plötzlich innehielt. Ich sah ihn an, und dann begriff ich: Aufgeschlagen vor uns lag eine Doppelseite mit Waschmaschinen. Benno sah mich nicht an, doch seine Augen leuchteten. Ich nickte. Dann stand ich auf. Er schien einverstanden.
     
    »Das also hat dir etwas bedeutet«, überlegt Zoe, um abschließend ihr Votum zu

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