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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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des Canyons. Es ist, wie Marc gesagt hat: Als habe sich Gott in blinder Wut an seinem eigenen Werk vergangen.
    Im oberen Drittel ist der Trichter noch breit und steigt terrassenartig zur eigentlichen Schlucht hinab. Widerspenstige Zwergsträucher klammern sich an den Felsen, treiben ihre Wurzeln in die Ritzen und strecken sich nach jedem Lichtstrahl. Weiter unten wird es steil, still und dunkel. Beinahe senkrecht stürzt die Felswand in die Tiefe. Ich lasse einen Stein hinunterfallen und zähle die Sekunden. Ungefähr 300 Höhenmeter. Auf dem Grund scheint die Zeit stillzustehen. Dort ist die Schlucht nur noch wenige Meter breit und besteht aus nichts als weißlichem, pockennarbigem |96| Gestein – eine kryptische Mondlandschaft, der das Wasser die Farbe ausgewaschen hat.
    Zur Schneeschmelze verwandelt sich das jetzt reglose Flussbett in einen Strom, der alles mitreißt, was er zu fassen bekommt. Dann sägt das Wasser in nur wenigen Tagen tonnenschwere Brocken aus dem Kalkstein, schleift die Überhänge ab und schmirgelt sie glatt. Zurück bleibt eine neue Mondlandschaft. Jetzt jedoch ist alle Bewegung erstarrt. Zerklüftet durch herabgestürzte Felsen, hat sich eine Kraterlandschaft gebildet, steilwandige Becken, die mit flacheren Wannen wechseln, in denen sich das Geröll gesammelt hat. Es gibt Wasserlöcher, die wenige Zentimeter oder auch mehrere Meter tief sein können.
    Keiner sagt etwas. Die Kulisse ist über jeden Kommentar erhaben. Demut. Mehr bleibt nicht.
    »Davon hat Laura immer geschwärmt«, sagt Lilith nach einer Weile. »Irgendwann wollte sie mit mir herkommen und mich runterlassen. Sie oben, und ich an ihrem Seil. ›Bei mir bist du sicher‹, hat sie gesagt. Blöde Bitch.«
    Die Sonne hat den Grund verlassen und klettert langsam die Steilwand herauf. Unter uns zieht ein majestätischer Vogel scheinbar mühelos seine Kreise, breitet die Schwingen aus, spreizt die Federn und lässt sich tragen. Manchmal nimmt er ein Sonnenbad, dann wieder taucht er in den Schatten ein. Ein Königsadler. Das Männchen vermutlich. Die Paarungszeit ist vorbei. Das Weibchen ist mit Brüten beschäftigt. Nächsten Monat werden im Abstand von drei bis vier Tagen die Jungen schlüpfen. In diesen drei Tagen frisst sich das Erstgeborene so viel Kraft an, dass es auf seinem Geschwister herumhacken, ihm die besten Bissen wegschnappen oder es gar in den Tod stürzen wird. Kain und Abel, immer wieder.
     
    Als wir zum Bus zurückkehren, stehen ein Mann und eine Frau neben dem silbergrauen Citroën und halten sich in den Armen, als wollten sie miteinander verschmelzen. Ein Versprechen, denke ich. Sie geben sich ein Versprechen. Zoe, Lilith und Bernhard bleiben abrupt stehen. Es ist, als hätten sich ihre gemeinsamen Sehnsüchte in einer menschlichen Skulptur vereinigt.
    |97| »Ich könnte kotzen bei dem Anblick«, flüstert Zoe.
    Wir gehen zum Bus.
    Es sind Amerikaner. Sie kommen gerade aus der Schlucht. Es gibt einen Weg hinunter. Die Blicke des Mannes kleben an Liliths T-Shirt, während er ihr von dem Abstieg erzählt. An einer Stelle ist eine rostige Leiter in den Felsen eingelassen, die am seidenen Faden hängt, und manchmal muss man sich mit dem Rücken an der Felswand entlangschieben, aber es geht, man kommt bis ganz nach unten, »it’s terrific!«.
    »Wenn der wüsste, was auf dem T-Shirt steht«, raunt Marc mir zu.
    Der Mann versucht, sich nichts anmerken zu lassen, doch seine Augen sind magnetisiert. Vor zwei Minuten hat er seiner Freundin das größte Liebesversprechen gegeben, Lilith und ihre Brüste aber zersetzen sein Versprechen schneller als Salzsäure einen Hundeknochen. Lilith hingegen taxiert seine Freundin: süß. Passt ins Beuteschema. Die Freundin, der letzte Punkt in dem Dreieck, das sie bilden, versucht so zu tun, als sei nichts. Ihren Freund wird sie später unter vier Augen zur Rede stellen, und Liliths Blicke machen sie nur nervös.
    Der Weg sei nicht offiziell freigegeben, erfahren wir, aber man findet ihn, er ist markiert. Nicht weit hinter dem Parkplatz beginnt der Einstieg. »You have to hurry, if you still want to go down. There are yellow dots along the way.«
    Der Mann winkt Lilith, als sie vom Parkplatz fahren, die Frau blickt demonstrativ geradeaus.
    Liliths Gesicht glüht vor Tatendrang. Miss Indiana Jones. Und diese Schlucht gehört ihr.
    Marc sieht mich an, als sei ich die entscheidende Instanz: »Was meinst du?«
    Auch Zoe sieht mich an.
    »Ohne mich«, sagt Bernhard, dem schon bei dem Blick

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