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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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Leben zu beginnen. Sie zieht ein Päckchen Taschentücher heraus und reicht es Bernhard. Mit |93| dem ersten wischt er sich die Tränen aus dem Gesicht, mit dem zweiten putzt er sich die Nase, das dritte wickelt er um seinen Daumen. Es ist sehr still. Nur das Zirpen der Grillen ist zu hören und das gleichmäßige Klappern des Auspuffs.
    Bernhard zieht ein viertes Taschentuch aus der Packung und macht eine hilflose Geste. »Manchmal …«
    There’s still so many things
    I want to say to you
    But go on
    Just go on
    Es gibt Tage, da bewegen sich nicht einmal mehr ihre Augen. Dann liegt sie einfach nur da, und Bernhard zweifelt, ob sie ihn überhaupt noch wahrnimmt. Immer wieder denkt er, dass sie gerade gestorben ist, aber dann setzt der Atem doch wieder ein.
    Bernhard versteckt erneut das Gesicht hinter den Händen. Ein Blutstropfen rinnt über seinen Daumen und versickert im Unterarm. »Ja, es stimmt!«, gurgelt er. »Ich wünsche mir, dass sie stirbt!« Er nimmt die Hände herunter, blickt aus dem Fenster und zieht die Taschentücher Nummer fünf und sechs heraus. »Und gleichzeitig habe ich totale Angst davor, weil … weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, wie es danach weitergehen soll.«

|94| 18
    Keiner weiß, wie weit das Meer noch weg ist. Weit, vermutlich. Immerhin haben wir das Ende der Wolkendecke erreicht. Die Abendsonne übergießt die Felsen mit Honig und lässt die noch frischen Blätter der Steineichen silbrig flimmern. Der Bus füllt sich mit Licht wie ein Aquarium mit Wasser. Schwerelos treibt der Staub umher. Als ich das Fenster öffne, zieht kühle Luft herein. Ich schätze, wir befinden uns auf 800 Metern Höhe, vielleicht auch 1000. Im Rückspiegel begegnen mir müde Gesichter – erschöpft von einem langen Tag im Bus, von der Suche nach dem Sinn des Lebens, von dieser Straße, auf der wir uns bewegen, ohne jemals vorwärts zu kommen.
    Marcs Joint hat alle etwas tiefer in die Polster sinken lassen. Zoe hat hin und wieder versucht, ein Netz für ihr iPhone zu finden. Vergeblich. Wir haben uns verloren.
    Ohne Bernhards isotonische Durstlöscher würden wir inzwischen wie Dörrobst in der Gegend liegen. Lange schon könnte die Straße hinter der nächsten Kurve in einen steinigen Feldweg münden, sich noch ein Stück durch ein Geröllfeld winden und schließlich in der Landschaft aufgehen, Teil der Berge werden. Zuerst verschwanden die Strommasten, dann die Mittelstreifen, inzwischen franst an den Rändern die Fahrbahn aus. Seit Bernhard den Inhalt seiner Pandorabüchse hat entweichen lassen, ist kein Wort mehr gewechselt worden.
     
    Plötzlich erscheint eine Brücke hinter einer Biegung, und die Erde bricht unter uns auf. Sobald man hinabblickt, macht der Magen Dinge, die er sonst nicht macht.
    »Große Güte!« Bernhards Hände tasten nach etwas, das ihnen Halt geben soll, und finden die Sitzlehne.
    »Sieht aus, als hätte Gott sich mit der Axt ausgetobt«, bemerkt Marc.
    |95| »Das muss zum Gorges gehören!«, ruft Lilith aus.
    Marc fühlt sich langsam, als habe er nicht das Gymnasium, sondern die Sonderschule geschmissen. »Zu wem?«, fragt er.
    »Der Gorges du Verdon – die größte Schlucht Europas. Das hier muss eine Seitenschlucht sein.«
    »Wie ist denn das gemeint – die größte?«, fragt Bernhard. »Heißt das, es ist die längste, oder die tiefste?«
    »Die längste
und
die tiefste«, gibt Lilith zurück. »Kannst du nicht mal ranfahren, Felix? Bitte!«
    Im Straßenknick am Ende der Brücke zweigt ein Schotterplatz ab, auf dem man parken kann. Am Kopfende schließt ein Weg an, den eine rostige Schranke absperrt. Ein verlassener Kiosk wartet auf die Felskletterer und Bungee-Springer, die im Juli und August hier einfallen. Bis dahin hält er seinen Rollladen dicht geschlossen.
    Ich parke den Bus neben dem einzigen Auto auf dem Schotterplatz, einem silbergrauen Citroën. Menschen sind nirgends zu sehen. Der Blick geht weit – in jede Richtung. Garriguebewachsene Felsplateaus, die in der Ferne zu Bergrücken ansteigen. Eine Gebirgskette löst die nächste ab, dahinter scheint eine weitere auf, und immer so weiter, bis jedes Gefühl für Entfernung unmöglich wird.
    »Lasst uns auf die Brücke gehen«, schlägt Lilith vor.
    Die Bogenbrücke überspannt kaum mehr als 50 Meter, doch bereits nach wenigen Schritten zieht kühle Luft aus der Schlucht herauf und greift mit kalten Fingern nach meinen Knöcheln. Von der Mitte der Brücke aus offenbart sich dann die ganze tragische Tiefe

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