Nächsten Sommer
überwunden hat, zischt er mir ins Ohr: »Dafür wirst du büßen, Schweinehund.« Den anderen ruft er zu: »Geil!«
Lilith steht als Nächste auf. Mit einer Bewegung, die Bernhard gerne in Marmor meißeln würde, streift sie sich ihr Fremde-Länder-fremde-Titten-T-Shirt ab und entblößt ihre Brüste.
»Und es ist garantiert tief genug?«, ruft sie.
So steht sie da, eine Amazone, mit nichts als einem String bekleidet, bereit, das Leben im Sturm zu erobern.
»Auf jeden!«, antwortet Marc.
Sie stellt die Füße parallel, breitet die Arme aus, setzt zum Sprung an, dreht einen anderthalbfachen Salto und taucht kerzengerade ins Wasser ein.
Dreimal sagt Bernhard: »Ihr spinnt doch!«, aber als sogar Zoe ihr T-Shirt auszieht und springt, kann er schlecht auf dem Felsen sitzen bleiben.
Er tut es. Springt. Und so, wie er dabei die Augen zusammenkneift und sich die Nase zuhält, denke ich, dass es wahrscheinlich das Mutigste ist, was er in seinem Leben bisher getan hat.
»Ich hab’s gewusst!«, schreit er, als er an die Oberfläche kommt und nach Luft schnappt. »Ihr Schweine!«
Und dann werde ich von allen so lange untergetaucht, bis mein Puls in wilder Panik gegen die Schädeldecke trommelt.
Das Wasserloch würde Zoes Traumhaus in Südafrika alle Ehre machen – ein langgezogener Schlauch, von dem seitlich Kammern |101| und Grotten abzweigen, alle umschlossen von demselben weichgespülten Stein.
Bernhard befühlt einen Bogen, der mühelos als Tor zur Unterwelt durchginge: »Das ist ja wie bei ›Herr der Ringe‹.«
»Nur kälter«, bemerkt Lilith.
Vorsichtig tastet sich Bernhard in die Grotte vor: »Hat jemand Golum gesehen?«
Von irgendwoher erschallt Zoes Stimme: »Kann mal einer kommen? Felix! Felix!!«
Wir schwimmen um die Biegung und finden Zoe hektisch auf der Stelle rudernd vor einem Felsüberhang. Ihre Haut leuchtet weiß, die Lippen schimmern bläulich, ihre Haare scheinen aus dem Wasser zu wachsen und sich um ihren Kopf zu ranken – ein Märchen aus Fleisch und Blut. Das reflektierte Licht streicht ihr über die nackten Schultern und züngelt sich den Hals hinauf.
Ihre Stimme ist von Angst belegt: »Was ist’n das?«
Aus dem Dunkel funkelt uns etwas an – ein Auge. Ein Fellrücken schimmert matt aus dem Wasser. Davor ragt etwas aus der Oberfläche, das ich zunächst für einen Ast halte, das sich jedoch bei näherer Betrachtung als Reißzahn erweist.
»Ein Wildschwein«, sagt Bernhard, »ein Keiler.«
Zoe ist alles andere als beruhigt: »Und was macht der hier?«
»Verwesen«, sagt Lilith, »sieht man doch. Dem fehlt ja schon das halbe Gesicht.«
»Wie appetitlich«, sagt Bernhard.
Zoe kann ihren Blick nicht abwenden: »Und wie kommt der hierher?«
Ich blicke die Steilwände hinauf: »Ist wahrscheinlich zur Schneeschmelze in die Schlucht gespült worden und nicht mehr rausgekommen.«
In diesem Moment kommt uns allen derselbe Gedanke.
»Wie kommen
wir
hier eigentlich wieder raus?«, fragt Bernhard.
Der Stein verweigert jeden Halt. Keine Kanten, keine Riefen, nichts, woran man sich hochziehen oder einen Fuß darauf setzen könnte. Wir schwimmen in einem Steintrichter. Dem Wasserlauf |102| folgend, wird das Becken durch einen abgerundeten Felsen begrenzt, der wie eine Domkuppel aus dem Wasser ragt. Mit Anlauf und Gummisohlen würde man vielleicht hinaufkommen. Aber nicht mit bloßen Händen. Und über Wasser laufen kann keiner von uns. Die drei Felsen am anderen Ende des Beckens sind so sehr miteinander verwachsen, dass man sie für einen halten könnte. Lediglich dort, wo sie aufeinandertreffen, klafft ein rundes Loch, eine Linse, die das letzte Tageslicht einfängt. Möglicherweise könnte sich einer von uns hindurchzwängen.
»Kommen wir da irgendwie ran?«, fragt Marc.
Ich schätze die Entfernungen ab und vermesse im Geiste die Wände in alle möglichen Richtungen. Keine Chance. Es müsste eine Flutwelle kommen, um den Wasserspiegel derart ansteigen zu lassen. Die Linse blickt auf uns herab wie das Auge eines Sauriers.
»Nicht vor der nächsten Schneeschmelze«, antworte ich.
Ich spüre, wie Bernhard neben mir von Angst ergriffen wird. »Ich hab gleich gesagt, dass es eine Scheißidee war, in die Schlucht zu steigen.«
»Warum bist du dann nicht oben geblieben?«, fragt Marc. »Da wärst du uns jetzt die größere Hilfe.«
Bernhard antwortet nicht. Eine der Eigenschaften, die er an sich selbst am meisten verachtet, ist seine Unentschlossenheit. Wenn man lange genug an
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