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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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Inzwischen jagt mir jeder Atemzug eine Nadel durch die Lunge. »Aus eigener Kraft kommen wir hier nicht raus.«
    »
Wie
wir hier rauskommen, ist mir scheißegal. Von mir aus könnt ihr auch beten. Aber wir werden nicht in diesem Loch absaufen, jedenfalls
ich
nicht. Ich hab noch zu viel vor, Mann.« Marc |105| versucht, seine Finger zu bewegen, doch zu einer Faust lassen sie sich nicht mehr ballen. Er reckt seinen Kopf aus dem Wasser, so gut es geht: »Hörst du, Gott: Ich hab einfach noch zu viel vor!«
    »Warum betest
du
nicht?«, fragt Bernhard.
    »Weil Gott nicht blöd ist, Mann! So einfach lässt der sich nicht verarschen. Wenn
ich
zu ihm bete, dann schickt er uns bestenfalls einen Blitz, damit es schneller geht.«
    Das letzte Licht hat die Schlucht verlassen. Die Linse zwischen den Felsblöcken erblindet. Das ausgewaschene Gestein verliert seine Konturen, hüllt sich in weiße Schleier wie ein Gespensterreigen. Auf einmal streift es Tausende Tonnen Gewicht ab und wird leicht wie Gaze.
     
    Als auch Zoe ihre Beine nicht mehr spürt und das mögliche Ende Gestalt annimmt, schwellen ihre Rufe zu einem panischen Gesang.
    Bernhard beginnt zu beten. »Lieber Gott …«
    Ich beginne zu zählen. Am Ende macht jeder seins. Ungerade Quadratzahlen. Die geraden mag ich nicht. 1521. Da fange ich an. Ist eine meiner Lieblingszahlen.
    1681.
    1849.
    2025.
    Bernhard bittet um Vergebung, bereut, nicht stark genug gewesen zu sein. Immer war er irgendwie verkehrt, dabei wäre er so gerne richtig gewesen. Und niemals hätte er den Wunsch zulassen dürfen, seine Mutter möge sterben. Die Geschichte seines Lebens: Nie der gewesen zu sein, der er hätte sein wollen. Und jetzt stirbt er noch vor seiner Mutter.
    2209. Heute in zweihundert Jahren. Bis dahin ist jeder von uns lange von Würmern zerfressen worden, zu Staub zerfallen und von der Natur mehrfach recycelt worden.
    2401
    2601.
    2809. Noch eine Lieblingszahl von mir.
    3249.
    Ich wünschte, es gäbe etwas, das ich sagen könnte. Etwas, das |106| es ihm leichter machen würde. Doch wie so oft habe ich keine passenden Worte. Wahrscheinlich rede ich deshalb so wenig. Zwischen dem, was ich fühle, und dem, was ich sage, klafft immer eine Lücke.
    »Dreitausendfünfundzwanzig«, sage ich.
    »Was soll denn das jetzt?«
    »Die hab ich vergessen«, erkläre ich, »dreitausendfünfundzwanzig. Kommt vor dreitausendzweihundertneunundvierzig. Das Quadrat von fünfundfünfzig.«
    »Du und deine Scheißzahlen!«, schreit Bernhard.
    3481.
    In Bernhards Gebet mischen sich Tränen. Bad energy, wie Marc sagen würde. In einer halben Stunde werden wir vermutlich ertrunken sein. Und alles, was er sich noch zu sagen hat, sind Vorwürfe.
    3721.
    3969.
    Zoes Hilferufe münden in Schreie. Wie die eines Kindes. Wie die von Benno, wenn ich ihn morgens seiner Welt entreiße. Wie meine eigenen, im Heizungskeller. In diesem Moment wird mir klar, dass Zoe als Erste ertrinken wird.
    Die Quadrate der Zahlen 66 bis 88 überspringe ich. Die mochte ich noch nie.
    7921.
    Marc sieht mich ungläubig an. Seine Haut ist durchscheinend wie eine Bibelseite. »War’s das jetzt?«
    8281.
    8649.
    9025.
    9409.
    9801. Das Quadrat von 99. Das ist das Ende.
    »Hey, Felix! Ich hab dich was gefragt!«
    »Was?«
    »War’s das jetzt?«
    Ich überlege noch, was ich Marc antworten soll, als von hoch oben eine Stimme erschallt. Bis sie uns erreicht, wird sie so oft zwischen den Felswänden hin und her geworfen, dass sie von |107| überall gleichzeitig kommt und die Worte übereinanderpurzeln: »Spart euch den Atem – bin doch nicht taub!«
    Sekundenlang herrscht ungläubiges Schweigen.
    »Habt ihr das gehört?«, fragt Lilith.
    »Ich schon«, antwortet Marc.
    Lilith beginnt, wie eine Irre zu lachen: »Das gibt’s doch nicht – Zoe, du kannst aufhören, Zoe! – Hast du nicht gehört?!«
    Bernhard, der nicht mehr unterscheiden kann, wo die Realität aufhört und die Imagination anfängt, fragt tatsächlich: »War das Gott?«
    »Na sicher«, entgegnet Marc und beginnt ebenfalls zu lachen. »Der kommt jeden Abend hier vorbei und klopft sich auf die Schulter, weil alles so hübsch aussieht. Und weil ihr so dicke Kumpels seid, du und der liebe Gott, sag ihm doch bitte, dass er sich beeilen soll. Hast du gehört, GOTT? BEWEG DEINEN ARSCH! BITTE! Amen.«

|108| 20
    Gott heißt Jürgen. Und er ist nicht so, wie man sich Gott gemeinhin vorstellt. Er lebt eine halbe Autostunde entfernt von der Artuby-Schlucht, in der wir feststecken, in

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