Nächsten Sommer
ihm zieht, knickt er um. »Ein schwacher Charakter«, hat sein Vater das genannt. Danach hat er sich scheiden und nie wieder blicken lassen. Einen Sohn mit schwachem Charakter zu haben war ihm unerträglich. Und jetzt wackelt Bernhard wie eine Kaulquappe in diesem Wasserloch herum. Dabei wollte er nicht springen, auf keinen Fall.
»Scheiße!«, schreit er und schlägt mit der flachen Hand auf den Fels ein. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
Bernhards Wutausbruch endet so abrupt, wie er begonnen hat. Übrig bleibt ein farbloses Gemisch aus Trauer, Groll und Fatalismus.
»Leute?« Alle drehen sich zu Zoe um, die hinter uns Wasser tritt und zu dem Saurierauge aufsieht. »Ich hab Angst.«
Plötzlich sehe ich uns von oben, als säße ich auf dem Felsen zwischen unseren Schuhen und den T-Shirts von Lilith und Zoe: |103| Fünf Gestalten, die vor einem Steinwall im Wasser rühren. Stumme Ratlosigkeit.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Lilith.
»Wie wär’s mit um Hilfe rufen?«, schlägt Zoe vor.
»Spitzenidee«, sagt Lilith.
»Hast du eine bessere?«
Ich spüre meine Finger und Zehen nicht mehr. Und kann sie auch nicht bewegen. So geht es los. Hab ich mal gelesen. Sobald deine Temperatur um mehr als zwei Grad absinkt, stellt dein Körper die Versorgung der Extremitäten ein, um die lebenswichtigen Organe zu schützen. Zuerst kommt es dir vor, als schliefen deine Zehen ein. Dann kriecht eine schleichende Lähmung deine Beine herauf. Am Schluss windet sich dein Körper in reflexhaften Zuckungen, die du bereits nicht mehr steuern kannst.
Im Knie der Biegung ist das Wasser nicht ganz so eisig, weil es dort am längsten von der Sonne gewärmt wurde. Bernhard kann sich sogar, wie ein Turner an zwei Steinen hängend, zu zwei Dritteln aus dem Wasser hieven. Aber nicht weiter. Und nicht lange. Inzwischen hat auch er angefangen, um Hilfe zu rufen. Ich glaube, er macht es vor allem, um Zoe nicht alleine zu lassen. Deren Rufe sind in ihrer einsamen Verzweiflung nicht zu ertragen. »Wo ist denn hier der Warmwasserhahn?«, fragt Marc.
Er erhält keine Antwort. Es ist kein Platz mehr für Humor. Nicht einmal für Galgenhumor.
»Ich hab das Lied noch nicht fertig«, sagt er.
»Als würde das jetzt noch einen Unterschied machen«, sagt Bernhard.
»Klar würde es das. Nichts, das mal da war, geht wieder ganz verloren. Ist wie eine Kerbe in der Matrix. Jeder schöne Moment, jede schöne Idee – Scheiße, ist das kalt! – hinterlässt einen Abdruck. Fang jetzt nicht an zu diskutieren, Bernhard, ist echt kein guter Moment. Alles, was ich sage, ist: Wenn dieses Lied fertig geworden wäre …«
»Was dann?«
Marc verstummt. Selbst er scheint zu kapitulieren. »Was weiß ich …«
|104| Lilith ist mit ihrer eigenen Matrix beschäftigt: »Mein Gott, wie absurd ist
das
denn?«, überlegt sie. »Der Gorges, in den Laura immer mit mir hinabsteigen wollte, und jetzt hänge ich hier drin und komme nicht mehr raus.« Und dann fängt auch sie an, um Hilfe zu rufen. »Hilfe! Scheiße! Hilfe! Kann uns jemand hören? Hilfe!«
Mit dem Licht schwindet die Hoffnung. Der Lichtstreifen, der am Rand der Steilwand emporklettert, wird kleiner und kleiner. Erst färbt er den Stein orange, schließlich taucht er ihn in ein leuchtendes Rot. Über uns zieht der Königsadler im Abendlicht seine Kreise – der Erstgeborene, der überlebt hat. Der andere, den er aus dem Nest gedrängt hat, durfte nie erfahren, wie es ist, seine Flügel zu spreizen und sich tragen zu lassen.
Vor drei Stunden saßen wir im Bus, und ich wollte bereit sein, mein Ende anzunehmen. Jetzt strampeln wir in einer Eiswanne, und der Tod kriecht uns die Beine herauf. Bin ich bereit? Ich weiß es nicht. Es scheint nicht mehr wichtig zu sein. Knieabwärts hat mir die Kälte die Beine amputiert. Ich schlage mir gegen die Unterschenkel. Nichts. Kein Gefühl. In den Beinen nicht, in der Hand nicht.
»Marc?«, sage ich.
Ich will den Moment nicht verpassen. Matrix, Abdruck, Energie – all das eben. In zehn Minuten ist es vielleicht zu spät.
»Was?«
»Danke.«
»Hör bloß auf mit dem Scheiß, Mann. Du redest, als wären wir schon tot! Was soll’n das werden? Sagen wir uns jetzt alle noch mal, wie lieb wir uns haben? Wir sind noch nicht tot, und wir werden auch nicht sterben, jedenfalls nicht hier und nicht heute. Überleg dir lieber, wie wir hier rauskommen. Los, du Genie! Streng deine grauen Zellen an! Irgendeinen Weg muss es geben.«
»Nein«, antworte ich.
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