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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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hinab das Herz in die Hose rutscht.
    Ich schätze den Sonnenstand ab. Eine Stunde noch, maximal anderthalb. Dann wird es dunkel. Und kalt. Ich ziehe die Schultern hoch.
    »Na dann los!«, sagt Lilith, als hätte ich das Signal gegeben.

|98| 19
    In unregelmäßigen Abständen begegnen uns die gelben Punkte, von denen der Amerikaner erzählt hat. Unnötig eigentlich. Hat man den Einstieg erst gefunden, ist der Rest selbsterklärend. Es gibt nichts mehr zu entscheiden. Wir finden die Leiter, die der Amerikaner uns beschrieben hat, und an einer Stelle drückt sich Zoe schwer atmend gegen den Fels und sagt: »Das schaff ich nicht.«
    Da stehen wir auf einem zwei Hand breiten Sims, der im 90-Grad-Winkel um eine Felskante führt, rechts Stein, links Leere. Wer einmal seinen Fuß darauf gesetzt hat, kann nicht mehr umkehren.
    »Geht nicht, gibt’s nicht«, antwortet Marc, für den jeder Schritt mit seinem unzuverlässigen Fuß auf dem schmalen Vorsprung eine Konzentrationsübung bedeutet.
    Und so steigen wir langsam in diese fremde Welt hinab, lassen die Vegetation hinter uns, den Adler, tauchen ein ins Schattenreich.
    Unten angekommen, sind alle erleichtert, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Zoe ist ganz schlecht vor Aufregung.
    »Mann, ist das abgefahren«, stellt Lilith fest, und ihre Stimme verliert sich in dem Steingeflecht wie in einer Kathedrale.
    Wir beginnen, in der Schlucht herumzuklettern. Einmal steigen wir über einen Felsen, der so feucht und so weiß ist, dass ich danach Kreide unter den Fingernägeln habe. Den Tag über hat sich der Canyon aufgeheizt, doch jetzt spürt man, wie die Kühle aus den Wänden dringt. Liliths Worte von heute Mittag kommen mir in den Sinn, als sie Zoes Hand auf ihre Brust legte: warm und kalt gleichzeitig.
    Weit kommen wir nicht. An der zweiten Biegung sind drei garagengroße Felsen miteinander verschmolzen. Wir können hinaufklettern, |99| doch die Senke, die sich auf der anderen Seite anschließt, ist mit Wasser gefüllt – ein verzweigter Swimmingpool, der hinter der Biegung verschwindet.
    Nichts regt sich, alles schweigt. Keine Zikaden, kein Auspuffklappern, nicht einmal ein Windhauch oder tropfendes Wasser. Drei Meter unter uns bedeckt der blaue Abendhimmel, der sich dort spiegelt, den Boden. Das Wasser ist so glatt, dass man glaubt, es müsse zerbrechen, sobald man einen Stein hineinwirft.
    Tut es aber nicht. Ich ziehe einen Kiesel aus einer Vertiefung und lasse ihn fallen. Widerstandslos taucht er ein, begleitet von einem Geräusch, das sich selbst verschluckt. Mit perfekter Gleichmäßigkeit rollen Wellen über das Wasser, brechen sich an den Rändern, werden zurückgeworfen und kreuzen sich, bis nur noch ein Zittern erkennbar ist. Kurz darauf liegt uns der Himmel wieder klar umrissen zu Füßen.
    »Das war’s dann wohl«, sagt Bernhard.
    Wie Affen hocken wir auf dem Felsen und blicken in die Schlucht.
    »Ich hätte ja gerne gewusst, wie es
hinter
der Biegung aussieht«, sagt Lilith.
    Ich ziehe einen zweiten Stein aus der Vertiefung, lasse ihn ins Wasser fallen und zähle die Sekunden, bis er im Dunkel verschwindet. Danach noch einen, zur Sicherheit. Ungefähr drei Meter, und kein Grund.
    »Was gibt’n das, wenn’s fertig ist?«, fragt Marc, als ich mir die Schuhe abstreife.
    Ich ziehe mir das T-Shirt über den Kopf, ohne zu antworten.
    »Meine Güte«, sagt Lilith, als sie meinen nackten Oberkörper sieht, »du solltest echt mal was essen.«
    Inzwischen stehe ich und knöpfe meine Hose auf.
    Marc wird nervös: »Ey, Alter, was soll’n das geben?«
    Ich rolle meine Hose zusammen und lege sie auf die Schuhe. »Du hast sie doch nicht alle«, bemerkt Bernhard.
    »Ich glaube, es ist tief genug«, antworte ich.
    Und springe.
    »Felix!«, kommt Zoes Stimme von hinten, doch da habe ich den Kontakt zur Erde bereits verloren.
    |100| Das Wasser ist so kalt, dass mein Gehirn zwei zusätzliche Sekunden benötigt, bis es begreift, dass es
wirklich
so kalt ist. Noch bevor ich wieder die Oberfläche erreiche, legt es meinen Armen Manschetten an und schnürt mir die Luft ab.
    Vier Köpfe recken sich über den Felsrand.
    »Ist das nicht scheißkalt?«, fragt Zoe.
    Sie ist besorgt, denke ich, und komme mir seltsam geadelt vor. »Nein«, rufe ich, »genau richtig.«
    Bei Marc würde das nie funktionieren. Dem würde keiner glauben. Mir jedoch traut niemand einen Hinterhalt zu.
    Ausgerechnet Marc springt als Nächster. Nachdem er aufgetaucht ist und den ersten Schock

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