Nächsten Sommer
die Beine zuckend, als suchten sie einen Halt.
Jürgen zieht Zoe auf den Vorsprung, umgreift mit beiden Händen die Schlinge und schleift sie wie einen sterbenden Fisch zwischen seinen gegrätschten Beinen an einen Platz, von dem sie nicht herunterrutschen kann. Jetzt hat er, worauf er aus war.
Wir werden sterben. Ich bin sicher. Das Stechen in meiner Brust wird in Kürze meine Atmung lähmen. Mein Herz schlägt um sein Leben. Nicht, dass es noch darauf ankäme. Das Wasser glänzt schwarz in der Dunkelheit. Jeder meiner Atemzüge hallt von den Steinen wider. Ich habe gelesen, dass es sehr schnell geht – ertrinken. Viel schneller, als man denkt. Für ungefähr eine Minute lässt sich der Atemreflex unterdrücken, bevor er einen dazu zwingt, seine Lungen mit Wasser zu füllen. Danach ist man sofort ohnmächtig. Den schlimmen Teil – die Spasmen, das letzte Aufbäumen, den Kollaps – macht der Körper mit sich aus.
Ich hoffe, dass ich der Letzte sein werde. Ich will nicht, dass die anderen mich sterben sehen. Der Reißzahn des Keilers schimmert auf der Oberfläche wie eine verblassende Erinnerung. Wasser steigt mir in die Nase. Noch einmal reiße ich den Kopf zurück und sehe, wie die Felsen über mir ihre Köpfe zusammenstecken.
Liliths geflüsterte Stimme wandelt über das Wasser und kriecht mir ins Ohr: »Du säufst jetzt nicht ab, oder?«
|114| »Keine Sorge.« Es sind meine letzten Worte. »Ich warte auf euch.«
Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Am Himmel glaube ich einen ersten Stern zu erkennen, den Abendstern. Möglich auch, dass ich ihn mir nur einbilde. Schön ist er, so oder so.
Ich gleite durch das Wasser, ohne mich zu bewegen. Neben mir schwimmt ein Schatten – Marc. Ich begreife, dass ich
nicht
der Letzte sein werde. Mein bester Freund wird mich ertrinken sehen. Ich möchte ihm sagen, dass es mir leid tut, doch meine Lippen bewegen sich nicht. Spielt keine Rolle. Er weiß es, so oder so.
»Bis gleich«, sagt er.
Ich versuche zu lächeln. Etwas schnürt mir die Brust zusammen. Ein Schmerz steigt mir in den Kopf und explodiert an tausend Synapsen gleichzeitig. Ich sehe, wie sich das Wasser von mir entfernt, die Köpfe der anderen. Dann verliere ich das Bewusstsein.
|115| 22
»Ihr habt mir meinen Fick versaut.« Während Zoe sich trockene Sachen anzieht, begutachtet Jürgen unverhohlen ihren Körper. »Wird nachgeholt«, stellt er fest.
Wir sitzen im Bus, eingewickelt in speckige Umzugsdecken, mit denen Marc die Boxen und Instrumente schützt, wenn er mit einer Band unterwegs ist. Falls es einen Muskel in meinem Körper gibt, der nicht schmerzt, wüsste ich gerne, welcher.
Anderthalb Stunden hat der Aufstieg gedauert. An den gefährlichen Stellen hat Jürgen die Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt und Zoe wie einen Kartoffelsack geschultert. Unterdessen hat sich der Himmel wieder zugezogen, und es ist Nacht geworden. Die Leselampe im Bus ist die einzige Lichtquelle im Umkreis von 20 Kilometern. Die Mücken und Falter feiern es wie Silvester. Jürgen hat seinen Wagen geholt, eine Sporttasche von der Rückbank genommen und eine Schachtel sowie ein Spritzbesteck hervorgekramt. In der Schachtel lagern in passgenauen Schaumstoffsärgen Glasampullen Reih in Reih.
»Sind Sie Arzt?«, fragt Lilith.
»So was Ähnliches.«
»Und was ist da drin?«, will Bernhard wissen.
Jürgen zermatscht ein Insekt auf seinem Unterarm, knackt eine Ampulle und zieht den Inhalt auf eine Spritze. »Das hier«, antwortet er und klopft die Luftblasen aus dem Kolben, »entspricht vierundzwanzig Kilo Obst. Bisschen Koffein ist auch dabei. Wenn du das einer kalbenden Kuh spritzt, drückt die in zwei Minuten ihr Kälbchen raus. Ärmel hoch.«
Jürgen hat eine Art, »Ärmel hoch« zu sagen, dass man nicht auf die Idee kommt zu widersprechen. Reihum bekommt jeder eine Ampulle injiziert.
Jürgen sieht auf seine Uhr: »Zweimal in drei Stunden ’nen Fick versaut – ihr seid echt spitze.«
|116| Mit diesen Worten steigt er in seinen Wagen und jagt vom Parkplatz. Der aufspritzende Kies wird bis in den Bus geschleudert. Als die Rücklichter hinter der Biegung verschwinden, sagt Lilith: »Danke.«
Zoe hat noch keinen Laut von sich gegeben. Eingesponnen in ihrer Decke sitzt sie auf der Rückbank und bedenkt mich mit dem gleichen Blick, den sie mir im Canyon zugeworfen hat – bevor Jürgen sie aus dem Wasser fischte.
Der intravenöse Obstcocktail zeigt Wirkung. Als sei ich an einen Stromkreislauf
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