Nächsten Sommer
Dutzend Bauwagen ein. Léon geleitete den Zug unter immensen Komplikationen durch das Gassengewirr zum Grundstück von Gérard, der seine Wiese alljährlich als Weide für die Zirkustiere zur Verfügung stellt. Morgen, am Sonntag nach dem Bouleturnier, ist Dorffest, und der Zirkus gibt eine Sondervorstellung.
Bei Hélène herrschte den ganzen Tag Hochbetrieb. Ihr gehört der Frisiersalon im Dorf. Im Umgang mit der Schere hat Hélène in den letzten Jahren an Souveränität eingebüßt, doch der zunehmende Sehverlust ihrer Kunden gleicht es wieder aus. Gilbert, Vater des Dorfpolizisten Maurice und seinerzeit in der Résistance aktiv, hat das Gefallenendenkmal mit einem neuen Kranz geschmückt; Louis hat die Pernotvorräte seiner Kneipe aufgestockt; Jeanne hat wie jedes Jahr den gemusterten Fliesenboden des
Louis
liebevoll mit einer Sonderration Pflegemittel gewischt und die bunten Lichterketten über die Straße gespannt, bis hinüber zu den Tischen auf dem Platz.
Neben der kleinen Kirche ist eine provisorische Bühne errichtet worden, auf der ein verschmitztes Trio älterer Herren bekannte Melodien zum Besten gibt. Zwei Dutzend versprengte Menschen bilden einen losen Halbkreis, manche wippen ein bisschen mit der Hüfte, zwei klatschen den Takt mit. In der Mitte tanzt mit Stakkatobewegungen der Dorfalki und freut sich. Auf dem Dorffest ist Platz für jeden, und Boule ist das Spiel, das alle vereint und keine sozialen Unterschiede kennt. Gegenüber der Bühne hat ein Pizzawagen seine Tresen hochgeklappt, dampft nach allen Seiten und verströmt den Geruch provenzalischer Kräuter und geschmolzenen Käses. Am Ende des Platzes, im Halbschatten, wartet das vertäute Zirkuszelt auf seine Gäste.
Star des Abends ist Jeanne. In ihrer Mischung aus Tragik und Traum strahlt sie so rein und so erhaben wie Michelangelos Pietà. Indem sie die Lichterketten über die Straße gespannt hat, hat sie sich unfreiwillig ihre eigene Bühne geschaffen. Das Publikum, das sich um die Tische auf dem Platz drängt, goutiert jeden ihrer Auftritte mit heimlichen Blicken und sich drehenden Köpfen. Nicht wenige Spieler aus dem Umland lassen ihretwegen zum Saisonauftakt die Familien zu Hause.
|120| Alphonse, der inzwischen bei seinem achten Panaget angelangt ist und Jeanne verehrt, seit sie gemeinsam die Grundschule am Ende der Durchfahrtsstraße besucht haben, hat sich bereits am frühen Nachmittag den Stuhl neben dem Eingang gesichert. Wann immer Jeanne aus der Bar kommt und mit erhobenem Tablett die Straße überquert, folgt er ihren Schritten, und bei jeder Rückkehr fällt ein kurzes Lächeln für ihn ab, das er wie eine Briefmarke zu den anderen ins Album klebt. Alphonse besitzt viele solcher Alben, ein ganzes Regal voll, und alle sind bestückt mit Jeannes beiläufigen Aufmerksamkeiten. Die Sondermarken erhalten einen Ehrenplatz: Wenn Jeanne ihm die Hand auf den Arm legt oder einen Kaffee spendiert oder ein Stück ihrer Apfeltarte. Alphonse hat nicht viel gesehen von der Welt, aber eine bessere als Jeannes Apfeltarte kann es nirgendwo geben.
Wie Alphonse gehört auch Jeanne zu der Handvoll Hängengebliebener, die sich über den Ort verteilen. Ihre Freunde haben Pui nach und nach verlassen. Marseille, Paris, manche haben es sogar ins Ausland geschafft, nach Kenia und New York. Ihr selbst hat für die großen Entscheidungen stets der Mut gefehlt. Sie hätte gerne Kunst studiert, in Aix. Zeichnen. Ist nicht weit bis Aix. »Kind, du kannst sooo schön zeichnen«, hat ihre Grandmère gesagt. Doch allein der Gedanke daran, sich und ihre Mappe vor einem Tribunal aus Professoren präsentieren zu müssen, lähmte sie von Kopf bis Fuß. So blieb sie schließlich, was sie bereits zur Schulzeit war – das schöne, schüchterne Mädchen, das im
Louis
bedient. Es hat sie konserviert. Äußerlich hat sie sich kaum verändert.
Jeanne anzustellen war Louis’ erste Amtstat, als er die nach ihm benannte Bar von seinem Vater übernahm. Er war 36, Jeanne 16. Heute ist er 56 und Jeanne so alt wie er damals. Ein väterlicher Freund, all die Jahre. Die anderen Kneipen sind nach und nach eingegangen. Nur das
Louis
nicht. Jeanne erwies sich für die Bar als eine Art Lebensversicherung. Mehr als einmal hat Louis ihr eine Partnerschaft angeboten, doch Jeanne wollte lieber seine Angestellte bleiben. Die Verantwortung schreckte sie ab, außerdem, das war klar, hätte sie damit sämtliche Träume zu Grabe getragen und wäre heute nur noch halb so
Weitere Kostenlose Bücher