Nächsten Sommer
angeschlossen worden. Ich bin hellwach, kann aber kaum die Kraft aufbringen, die Schiebetür zuzuziehen.
»Nichts gegen vierundzwanzig Kilo Koffein und ein bisschen Obst«, sagt Lilith, die ihre zitternde Hand betrachtet, »aber wenn ich nicht heute noch etwas zu essen bekomme, könnt ihr mich morgen früh an den Adler verfüttern. Kannst du noch fahren, Felix?«
Eine halbe Stunde, hat Jürgen gesagt, bis zu diesem Ort, Pui. Ich nicke. Eine halbe Stunde hält der Cocktail mindestens vor. Den anderen geht es wie Lilith: ein Königreich für eine gegrillte Eidechse! Ich ziehe den Schlüssel aus der Tasche.
»Okay, Felix.« Es sind Zoes erste Worte seit unserer Rettung. Zwei nur, aber genug, um jeden von uns innehalten zu lassen. »Du warst bereit, da unten den Tod anzunehmen«, fährt sie fort. »Ich hab es in deinen Augen gesehen. Glückwunsch: Hast eine überzeugende Show abgeliefert. Aber weißt du was? Statt dich dafür zu bewundern, hat es mir nur Angst gemacht. Du tust mir leid, Felix, ganz ehrlich. Und weißt du auch, warum? Du bist nur deshalb bereit, den Tod anzunehmen, weil du zu wenig am Leben hängst. Kannst es kaum erwarten, was? Loslassen – da macht dir echt keiner was vor.« Sie blickt in die Nacht hinaus, eine Welt Schwarz in Schwarz. Das Einzige, was sie sieht, ist ihre Reflexion in der Scheibe. Nichts bewegt sich. Nur die Insekten, die um die Lampe tanzen. »Brauchst nicht zu antworten. Fahr einfach los.«
Ich schalte die Innenraumbeleuchtung aus, drehe den Schlüssel und lasse den Bus vom Parkplatz rollen.
|117| Wir kriechen auf einer endlosen Serpentine ins Tal hinab, wo wir die Spitze eines Sees umfahren. An einer Badestelle liegen, aufgereiht wie gestrandete Delphine, Kanus im Sand. Auf der anderen Seite schraubt sich die Straße wieder in die Höhe, schlägt eine Schneise durch dichten Wald, der überraschend aufbricht und uns auf ein Plateau spuckt – eine Scheibe, deren Ende in der Nacht verschwindet, in einer anderen Dimension, wo Zukunft und Vergangenheit sich gegenseitig in den Schwanz beißen.
Die Fahrt über sagt keiner ein Wort. Zoes Bemerkung hat jeder weiteren Unterhaltung schwere Steine in den Weg gelegt. Von Zeit zu Zeit ragt ein Stück Mondsichel durch die Wolken, und ein matter Schimmer senkt sich auf die Erde herab. Im Bus riecht es nach nassem Hund. Irgendwann ziehen die Lichter eines entfernten Ortes wie ein erleuchtetes Kreuzfahrtschiff über die Hochebene. Nach 45 Minuten führt uns die Landstraße in ein kleines Dorf. Insekten schwirren im gelblichen Licht der Straßenlaternen. Pui. Endlich.
|118| 23
Zum Zeitpunkt unseres Eintreffens hat Pui 627 Einwohner. Wahrscheinlich. Die meisten sterben unbemerkt. Das Dorf implodiert. Jeden Monat einer weniger. Neuzugänge sind nicht zu verzeichnen. Die letzte Geburt datiert ins Jahr 2001 und wurde gefeiert wie die Auferstehung Jesu.
Noch vor 20, 30 Jahren sah das anders aus. Es gab eine Schule, einen Kinderarzt, eine Bank, drei Restaurants, vier Bars und sogar ein kleines Kino mit 72 Sitzplätzen, betrieben von Jacques, dem Kioskbesitzer und leidenschaftlichen Cineasten, der dort freitag- und samstagabends die Filmrollen einlegte.
Die Leuchttafel über dem Vordach gibt es noch immer. Strahlt Nacht für Nacht über den verwaisten Hof, in der Hoffnung auf ein Wiederaufleben alter Zeiten, auf knutschende Teenager, Klatsch und Tratsch und den Geruch von Gitanes und salzigen Crêpes. Sogar die schwarzen Lettern klemmen noch in den Schienen. L ES L IAISONS D ANGEREUSES ist dort zu lesen, der letzte Film, den Jacques hier gezeigt hat, 1988, vor drei zahlenden Zuschauern. Seither wird in Pui abgelebt, nicht aufgelebt.
Heute jedoch ist ein besonderer Tag. Für die Dauer eines Wochenendes wird Pui künstlich beatmet. In den Gassen spürt man es nicht, aber der Dorfplatz hat sich herausgeputzt. Das erste Bouleturnier des Jahres, der Auftakt der Saison. Es findet stets in Pui statt. Dann hat man es hinter sich. Léon Bertou, der Bürgermeister, ist heute Morgen höchstselbst auf die Klappleiter gestiegen, um in dem Versorgungskasten, der in der großen Platane hängt, die Sicherungen für die Platzbeleuchtung zu erneuern. Außerdem hat er sämtliche »Brennstäbe« ersetzt. So heißen die Glühbirnen der Halogenstrahler bei ihm. Mittags kam der Kipplaster aus Riez und brachte neuen Kies.
Kaum war der abgeladen und hatte Léon Alphonse gezeigt, wie er ihn verteilen sollte, traf auch schon der Wanderzirkus mit seinem |119| halben
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