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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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dabei«, sagt Lilith und steht ebenfalls auf.
     
    Marc fährt nur wenige Meter. Gegenüber dem ehemaligen Kino hält er an. Am Ende der Straße hängt Jesus am Scheideweg: rechts oder links. Die Leuchttafel, auf der seit zwanzig Jahren L ES L IAISONS D ANGEREUSES flackert, taucht den Hof in winterliches Neonlicht. Früher gab es direkt neben dem Kino die örtliche Filiale der Crédit Agricole, doch die ist schon vor langer Zeit von einem Geldautomaten ersetzt worden. Ansonsten stehen auf dem gepflasterten Platz eine Parkbank, ein Mülleimer und eine Platane, die der Bank tagsüber Schatten spendet. Alles zusammen ergibt den unspektakulärsten Ort Frankreichs.
    |131| Marc stellt den Motor ab.
    Nach einer Weile sagt Lilith: »Danke. Ich bin wirklich froh, dass ich das erleben durfte.«
    Statt zu antworten, kramt Marc sein Haschischdöschen hervor und fängt an, einen Joint zu bauen.
    »Und wo ist jetzt die Pointe?«, fragt Zoe.
    Marc gibt sich Feuer, inhaliert und reicht die Tüte an Bernhard weiter, der sie skeptisch beäugt.
    »Ziehen«, sagt Marc.
    Bernhard gehorcht.
    Nachdem der Joint die Runde gemacht hat, deutet Marc auf den Schriftzug an der Leuchttafel. »Umstecken.«
    »Wie meinst’n das?«, fragt Bernhard.
    »Ich meine die Buchstaben«, erklärt Marc. »Umstecken.«
    »Und wie soll ich da raufkommen?«
    »Mir egal.«
    Bernhard blickt über den Hof und macht ein ratloses Gesicht. »Kann ich noch mal ziehen?« Er zieht, wartet, zieht abermals, wartet. Dann sagt er: »Mir fällt nichts ein.«
    Lilith beginnt zu kichern. Sie schiebt die Tür auf und reicht Bernhard die Hand. »Los, komm!«
    Hand in Hand laufen sie über den Platz, stolpern, kichern: Bernhard, der die Welt durch eine graugetönte Brille sieht, und Lilith, die weibliche Indiana Jones, mit Locken wie ein Engel und Brüsten wie Aphrodite. Sogar Bernhard muss sich ihr geschlagen geben.
    Die beiden veranstalten ein ziemliches Chaos. Marc, Zoe und ich beobachten die Szene aus dem Bus heraus, als hätten wir dafür Eintritt bezahlt. Mit großem Getöse ziehen sie die gusseiserne Bank unter das Vordach, um dann festzustellen, dass sie trotzdem nicht heranreichen, und sie wieder unter die Platane zu zerren. Anschließend wuchten sie den Mülleimer auf die Bank, steigen von der Bank auf den Mülleimer und hangeln sich von dort in den Baum. Unter ausgiebigem Gelächter robben sie einen Ast entlang und klettern schließlich von dort auf das Kinovordach, wo sie in Siegerpose die Arme recken. In den umliegenden Häusern gehen die ersten Lichter an.
    |132| »Bis einer weint«, sagt Zoe.
    Lilith und Bernhard ziehen sämtliche Buchstaben aus den Schienen und setzen sie zu neuen Worten zusammen. S … U … S … I …
    »Susi?«, fragt Zoe.
    »Kenn ich auch nicht«, antwortet Marc.
    Kurz darauf leuchtet nicht länger L ES L IAISONS D ANGEREUSES über den Platz, sondern:
     
    SUSI GOES A L A D IN
     
    »Das macht doch überhaupt keinen Sinn«, sagt Zoe.
    »Na und?«, antwortet Marc.
    »Wer weiß«, schalte ich mich ein. »Vielleicht ergibt es ja für sich genommen einen Sinn, und wir erkennen ihn bloß nicht.«
    Zoe lässt den Oberkörper gegen die Lehne sinken, legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. »Kapier ich nicht«, stellt sie fest.
    »Weiß auch nicht genau, was ich damit meine«, gebe ich zu. Vielleicht ist es wie mit dem Leben, denke ich. Vielleicht ist der Sinn des Lebens nichts anderes als das Leben selbst. »Vielleicht ist der Sinn von ›Susi Goes Aladin‹ einfach ›Susi Goes Aladin‹.«
    Zoe hält weiter die Augen geschlossen. Irgendwann sagt sie: »Verstehe.«
    Bernhard hat die übriggebliebenen Buchstaben vom Vordach gesammelt und lässt sie mit einer schwungvollen Bewegung über den Platz regnen. Lilith und er fassen sich an den Händen und verbeugen sich wie nach einer gelungenen Premiere.
    Der Jesus am Scheideweg beginnt zu leuchten, ein bläuliches Flackern, das heller wird, auf die Häuser überspringt und sich im Asphalt spiegelt.
    »Scheiße!« Marc lässt den Motor an. »Bernhard, die Bullen!«

|133| 25
    Bernhard greift reflexartig nach der Regenrinne, lässt sich über das Vordach rollen, und wie durch Zauberhand löst sich die Rinne aus der Befestigung, knickt langsam ein und setzt Bernhard behutsam vor dem Kino ab. Zurück bleibt Lilith. Ohne Regenrinne.
    »Spring!«, ruft Bernhard und streckt ihr die Arme entgegen, als könne er sie auffangen.
    Marc hat inzwischen den Bus gewendet und steht mit offener Schiebetür und

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