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Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
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reiflicher Überlegung. »Das Leben ist eine Losbude auf dem Jahrmarkt. Und daneben steht als Hauptgewinn ein funkelnder Mercedes. Sie machen dich glauben, dass irgendwo in der Glastrommel das Los ist, mit dem du den Mercedes gewinnst. Ihr wisst schon: das
große
Los. In Wirklichkeit aber, und das ist das Perfide daran, in Wirklichkeit sind nur Nieten in der Trommel – und ein paar Freilose, damit du bei der Stange bleibst. Und irgendwie weißt du das. Du weißt, dass der Hauptgewinn nur eine Illusion ist. Auch wenn er direkt vor dir steht, bleibt er doch für immer unerreichbar. Und trotzdem – es ist nicht zu glauben! –, und trotzdem trägst du dein gesamtes Taschengeld in diese verfluchte Losbude. Bis auf den letzten Cent.« Bernhard nimmt sein Weinglas, dreht es zwischen den Fingern und schleudert es zu unser aller Überraschung auf den Boden, wo es zerspringt, ohne dass irgendjemand sich dafür interessieren würde. »
Das
ist das Leben, Marc. Privileg … So ein Quatsch!«
    Jeanne kommt mit Handfeger und Kehrschaufel und fegt die Scherben zusammen.
    »Merci«, sagt Bernhard. Er blickt auf sie hinab, den Tränen nahe. »Tut mir leid.«
    Jeanne schenkt ihm ein Lächeln und trägt die Schaufel mit den Scherben in die Bar. Als sie zurückkommt, bittet sie darum, abkassieren |129| zu dürfen. Wir können ruhig noch sitzen bleiben, aber für sie ist Schluss.
    Marc zieht sein Portemonnaie hervor, doch bevor er ihr das Geld reicht, zögert er. Das Leben ist kurz, so schamlos kurz! Und morgen schon wird er diesen Ort für immer verlassen haben.
    »Komm mit uns!«, sagt er unvermittelt. Er ist sicher, dass sie ihn nicht versteht. »Ich schreib dir ein Lied und zeig dir, wie schön das Leben sein kann!«
    »Das glaube ich nicht«, stöhnt Bernhard.
    Jeanne sieht Marc an, als frage sie sich, ob er es ernst meint oder sich über sie lustig macht.
    »Lehn dich nicht so weit aus dem Fenster«, mahnt Zoe, »nachher versteht die dich noch.«
    Marc ist nicht mehr er selbst, heute Nacht. »Wär das schön«, sagt er. »Macht sie aber nicht, oder?« Er blickt theatralisch zu Jeanne auf, halb im Spaß, halb im Ernst. »Sprichst du etwa Deutsch, Dornröschen?«
    Jeanne zieht entschuldigend die Schultern hoch: »Mieux que toi français, en tout cas.«
    »Oha«, sagt Zoe, die als einzige Jeannes Antwort verstanden hat.
    »Wieso oha?« Marc blickt von einer zur anderen. »Was hat sie denn gesagt?«
    Zoe und Jeanne tauschen einen Blick stummen Einverständnisses aus. »Sie hat gesagt, dass sie wünschte, sie könnte dich verstehen«, gibt Zoe zur Antwort.
    Marc kapituliert. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit – vielleicht. Klar, jede verpasste Chance ist ein Verbrechen, stimmt schon. Aber heute muss er eins begehen. So, wie die Dinge liegen, kann er nicht einmal mehr die Augen aufhalten.
    »Ach, ich wusste es …«
    Jeanne wünscht uns einen schönen Abend, verabschiedet sich mit einer schüchternen Handbewegung und verschwindet in der Dunkelheit hinter dem Zirkuszelt.
    Sobald sie außer Hörweite ist, kann Bernhard nicht länger an sich halten: »Du bist so was von …
pein
lich!« Er äfft Marcs Stimme nach: »Ich schreib dir ein Lied und zeig dir, wie schön das |130| Leben sein kann – bei dir sind wohl sämtliche Sicherungen durchgebrannt!«
    »Jeder pubertiert eben, so gut er kann«, bemerkt Lilith.
    Marc bedenkt Bernhard mit einem ausgiebigen Blick. Irgendwann klatscht er in die Hände. Aufbruch. Jetzt, wo Jeanne gegangen ist, gibt es ohnehin keinen Grund mehr zu bleiben. Mühsam erhebt er sich.
    »Was hast
du
denn vor?«, fragt Lilith.
    Marc zeigt mit dem Finger auf Bernhard. Wie unser Mathelehrer früher. »Weißt du, was dein Problem ist?«
    Bernhard hebt müde eine Hand. »Verschone mich.«
    Doch Marc ist nicht nach Verschonen. Er glaubt nicht daran. Heute schon gar nicht. »Dein Problem ist: Du hast den Stock zu tief im Arsch sitzen.« Er hält die Hand auf: »Felix?«
    Ich sehe ihn an.
    »Schlüssel.«
    Ich ziehe den Busschlüssel aus der Hosentasche. Als sich Marcs Hand darum schließt, weiß ich, dass ich das nicht hätte zulassen sollen. Schon im Normalzustand ist Marcs rechter Fuß nur beschränkt zurechnungsfähig. Und jetzt, nach diesem Tag, nach 24 Kilo Koffein und drei Sorten Wein … Entschlossenen Schrittes stakst Marc mit seinem unsteten Gang Richtung Bus.
    »Wohin gehen wir denn?«, ruft Bernhard ihm nach.
    Marc antwortet, ohne sich umzudrehen: »Dir den Stock aus dem Arsch ziehen.«
    »Da bin ich

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