Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächsten Sommer

Nächsten Sommer

Titel: Nächsten Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Rai
Vom Netzwerk:
C-Dur-Akkord. Vorhin, da wäre er beinahe ertrunken. Jetzt ist das Leben plötzlich unerhört kurz, unendlich kostbar und jede ungenutzte Gelegenheit ein Verbrechen. Und dann steht Jeanne da und lächelt dieses Lächeln, das einem sämtliche Nackenhaare aufstellt – Marc spürt deutlich, wie sie sich gegen den Kragen seines Kapuzensweatshirts stemmen. Hinzu kommt, dass er vollständig unterzuckert ist, 24 Kilo Koffein intus hat, wie Lilith meint, und die Chemie seines Körpers völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist.
    Noch bevor wir uns gesetzt haben, sagt er, den Blick zur Bar gerichtet: »Von wo haben sie
die
denn eingeflogen?«
    Bei Lilith haben die letzten Stunden ihren Bedarf an Tragik auf absehbare Zeit gestillt: »Auf
so
was stehst du?«, fragt sie und zeigt Marc dabei ihre halb zerkaute Pizza.
    »Für die würde ich auf der Stelle ein besserer Mensch werden!«, bricht es aus ihm hervor, und es ist nicht auszuschließen, dass er das in diesem Moment tatsächlich glaubt.
    »Die ist doch viel zu alt«, wendet Zoe ein.
    »Nichts gegen reife Frauen«, sagt Lilith. Gemeint sind Frauen über dreißig. »Mit denen hat man ganz klar den besseren Sex. Jetzt guck nicht so, Bernhard. Ich weiß ja nicht, wie es bei euch Männern ist, aber nach meiner Erfahrung sind Frauen unter dreißig«– sie schickt Zoe ein schiefes Lächeln – »in ihrem Körper einfach noch nicht richtig zu Hause. Zumindest nicht die, die ich im Bett hatte. Und das waren einige.«
    »Was ist mit dir?«, frage ich. »Du bist doch selbst erst achtundzwanzig.«
    »Woher weißt
du
das denn?«
    »Du hast gesagt, dass Laura achtunddreißig war, als ihr zusammengekommen seid, und dass es zwei Jahre her ist und sie zwölf Jahre älter ist als du, folglich müss…«
    »Passt auf wie ein Schießhund, der Typ«, schneidet mir Lilith das Wort ab. »Ja, ich bin achtundzwanzig. Aber ich bin eine Ausnahme.« Sie schiebt sich das nächste Stück Pizza in den Mund. »Hab ich das richtig verstanden, Marc: Du wärst gerne die Erfüllung ihrer Sehnsüchte?«
    |125| Marc hat sich aus unserem Gespräch ausgeklinkt. Er hört Lilith kaum noch. Jeanne erscheint ihm wie eine Märchengestalt. »Dornröschen …«
    »Du spinnst doch«, stellt Bernhard fest.
    »Dann küss sie halt wach«, schlägt Lilith vor. »Die schreit doch danach.« Ihre Pizzaschachtel ist leer. Alle anderen sind höchstens bei der Hälfte. »Kann mich nicht erinnern, dass mir Pizza jemals so gut geschmeckt hätte. Noch jemand was über?«
    Ich schiebe meine Schachtel in ihre Richtung.
    Lilith betrachtet die Pizza, legt ihre Stirn in Falten und schiebt sie zurück. »Einem Einbeinigen nimmt man nicht die Krücken weg.«
     
    Als Jeanne an unseren Tisch kommt und in all ihrer tragischen Schönheit die Bestellung aufnimmt, verschlägt es Marc beinahe die Sprache.
    »Wein«, bringt er hervor, »bitte.«
    »Rouge, rosé ou blanc?«
    »Rot, rosé oder weiß?«, übersetzt Zoe.
    »
So
viel Französisch kann ich auch«, entgegnet Marc. »Sag ihr, ich will alles. Und eine Flasche Wasser für meinen antialkoholischen Kumpel.«
    »Ist das dein Ernst?«, fragt Bernhard. »Du willst jetzt Wein trinken?«
    Marc nimmt, was von seiner Pizza übrig ist, und klappt es zusammen wie ein Sandwich. »Fällt dir irgendein
guter
Grund ein, heute Abend
nicht
zu trinken?«
    Bernhard senkt seinen Blick. »Nein«, gibt er zu.
     
    Der Tag war heiß. Und für die Jahreszeit viel zu trocken. Wenn das so weitergeht, wird spätestens im August das Trinkwasser knapp, und die Risse in den Mauern werden so breit, dass man die Finger hineinstecken kann. Pui liegt auf der Hochebene wie auf einem Präsentierteller. Den Tag über hat die Sonne sämtliche Feuchtigkeit aus den Ritzen gezogen, jetzt atmen die Häuser auf und wärmen den Platz.
    »Ich lebe wieder«, stellt Lilith fest, als sie mit dem Finger die letzten Krümel aus der Schachtel stippt.
    |126| Nach der ersten Flasche Wein ist allen wieder warm. Die Müdigkeit senkt sich auf uns herab wie ein schwerer Nebel. Gleichzeitig lässt die Wirkung von Jürgens Obstcocktail nach. Die magere Glocke, die in dem Eisengestell auf dem Kirchturm hängt, schlägt zwölf.
    »Ich glaube, das war der längste Tag meines Lebens«, sagt Bernhard und verteilt die zweite Flasche auf die Gläser der anderen.
    Als auch die geleert sind, hat die Müdigkeit uns vollends in Ketten gelegt.
    »Jemand eine Ahnung, wo wir schlafen sollen?«, wirft Lilith in die Runde.
    Die anderen sind zu müde, um auch nur

Weitere Kostenlose Bücher