Nächsten Sommer
zu antworten.
Zoe erkundigt sich bei Jeanne, die jedesmal, wenn sie an unseren Tisch kommt, ein bisschen trauriger aussieht, ob es so etwas wie ein Hotel im Ort gibt.
Gab es mal, gibt es aber nicht mehr. Das nächste ist in Riez.
»C’est à combien de cilomètres d’ici?«, fragt Zoe. Wie weit ist das?
»À peu près dix«, bekommt sie zur Antwort. Zehn Kilometer, »en cette direction«. Ihr Blick folgt der Durchfahrtsstraße und verliert sich jenseits des Ortsausgangs.
Wir sehen uns an: Zehn Kilometer sind zu weit. Selbst einer wäre zu weit. Aus Pui kommen wir heute nicht mehr heraus. Schon die wenigen Meter zum Bus scheinen unüberwindlich.
Lilith zieht sich einen zweiten Stuhl heran und legt die Beine hoch: »Von mir aus können wir einfach hier sitzen bleiben.«
»Und dann?«, fragt Bernhard.
»Nichts. Um neun macht der Laden wieder auf, dann bestell ich mir ’nen Kaffee.«
Die Musiker packen ihre Instrumente ein. Die Bühnenbeleuchtung erlischt. Auf dem von Platanen umstandenen Bouleplatz jedoch herrscht noch rege Betriebsamkeit. Das stete Klacken der Kugeln zuckt durch die Nacht, gelegentlich gefolgt von einem respektvollen Murmeln, wenn es einem Spieler gelingt, auf zehn Meter Entfernung eine feindliche Kugel aus der Bahn zu schießen. Im gleißenden Halogenlicht wirkt das Spielfeld seltsam entrückt.
|127| Auch die dritte Flasche leert sich. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Meine führen mich zurück in den Canyon. Ich frage mich, ob Zoe recht hatte und ich nur deshalb bereit war, den Tod anzunehmen, weil ich zu wenig am Leben hänge. Ich weiß es nicht. Was ich jedoch weiß, ist, dass Zoe die ganze Zeit mit Festhalten beschäftigt ist, und das macht sie auch nicht glücklich. Vielleicht sollten wir uns auf halbem Weg entgegenkommen.
Außerdem frage ich mich, was wohl aus Hit and Run geworden wäre, wenn ich ertrunken wäre. Vielleicht hätte ihn Achmed eines Tages adoptiert, ihn unter den Arm genommen, auf den Beifahrersitz seines schwarzen BMWs gesetzt, wo alle geilen Chicks irgendwann landen, ihm 200 Watt Bushido in die Ohren geblasen und zu Hause einen Kratzbaum für ihn aufgestellt. Wahrscheinlicher ist, dass Achmed ihm irgendwann eine halbe Palette Katzenfutter auf einmal geöffnet, Hit and Run sich selbst überlassen und sich eine andere Gesellschaft für sein nächtliches Bier gesucht hätte. Und einverleibt hätte es sich der Fuchs.
Wie lange wird man von einer Katze vermisst? Wie oft wäre Hit and Run noch um meinen Bauwagen geschlichen, bevor er es schließlich aufgegeben und mich vergessen hätte? Zwei Wochen, drei, einen Monat vielleicht? Oder doch nur drei Tage? Unbemerkt beginnt sich der Platz zu leeren, hier einer, da einer verschwindet in den Gassen, rollt leise aus dem Dorf.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagt Lilith. »Wenn dieser zweibeinige Pitbull nicht vorbeigekommen wäre, würden wir jetzt alle kopfunter im Wasser treiben.«
»Zusammen mit dem Wildschwein«, bemerkt Bernhard.
Lilith spült die Vorstellung mit dem letzten Schluck Rotwein herunter. »Das Leben ist eine Wundertüte.« Entschuldigend fügt sie hinzu: »Hab ich mal gelesen.«
»Eher ein Überraschungsei«, überlegt Zoe. »Solange man die Gadgets zusammenbastelt und sich die Schokolade in den Mund stopft, freut man sich wie ein Kind. Doch sobald man fertig und das Ei gegessen ist, stellt man fest, dass das Spielzeug nicht funktioniert und die Schokolade nur zwei Dinge bewirkt hat: Hunger nach mehr und Hüftspeck.«
Marc ist noch immer in Trance. Als habe sein Abstieg ins Reich |128| des Hades alle seine Ansichten und Eigenschaften wie unter einem Brennglas vergrößert und erhitzt. »Das Leben ist eine Verpflichtung«, sagt er mit ungewohntem Nachdruck in der Stimme. »Ein Privileg und eine Verpflichtung, positive Energien in die Welt zu tragen …«
Ich sage nichts. Ich weiß nicht, was das Leben ist. Das Leben ist das Leben. Mehr fällt mir dazu nicht ein. Und es würde doch nur wieder verkehrt herauskommen. Wenn ein verborgener Sinn darin zu finden ist, dann wüsste ich gerne, wo ich danach suchen kann.
»Positive Energien …« Bernhard sieht Marc an, als habe der ihn persönlich beleidigt. Auch bei Bernhard scheint sich durch den Vorfall im Canyon verstärkt zu haben, was zuvor bereits angelegt war: die über Jahrzehnte eingegrabene Überzeugung, dass das Schicksal ihn wie einen ungeliebten Stiefsohn behandelt. »Ich kann dir sagen, was das Leben ist«, beginnt er nach
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